Der Vermittler

Zum Tod des polnischen Germanisten Norbert Honsza (1933-2020) – Ein Nachruf

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Einen Nekrolog, gespickt mit Hinweisen auf seine besonderen Verdienste oder herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, hätte sich Norbert Honsza wohl eher verbeten. Was ihm dagegen gefallen hätte, wären kleine Geschichten oder Anekdoten, mit denen man sich seiner erinnert. Deshalb soll dies hier ganz in seinem Sinne versucht werden.

Ich erinnere mich besonders an unsere erste Begegnung, als ich Norbert Honsza auf dem Internationalen Kongress des polnischen Germanistenverbands in Warschau im Oktober 1996 zum Thema Deutsch und Germanistik in Mitteleuropa das erste Mal erlebte. Ich war gerade neu als DAAD-Lektor am Germanistischen Institut in Warschau tätig. Damals galt noch der schöne Brauch, dass die Vorträge und die sich daran anschließenden Fragen der Diskussion am Ende in einer Art Co-Referat vom Sektionsleiter kurz zusammengefasst wurden. Und ich erinnere mich daran, wie prägnant Norbert Honsza die Fragen zusammenfasste, jeweils speziell und sehr persönlich auf den Vortragenden und die Fragenden bezogen – immer unter Nennung des Namens und an das übergeordnete Thema anschließend. Darin drückte sich für mich eine besondere Art von Respekt sowohl den Vortragenden als auch den Fragestellern gegenüber aus, wie ich es vorher und nachher selten erlebt habe. Das nahm mich von Anfang an für ihn ein und blieb mir nachhaltig in Erinnerung.

Schon damals fielen mir zwei Facetten der Persönlichkeit Norbert Honszas auf: neben seinem guten Gedächtnis vor allem eine Charaktereigenschaft, die man von Männern seiner Generation eher nicht erwartet hätte. Er war ungeheuer emphatisch. Das zeigte sich nicht zuletzt in einer Fähigkeit, die zwar immer wieder vehement eingefordert wird, aber bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keineswegs immer selbstverständlich ist: Norbert Honsza konnte vor allem zuhören, die Positionen und Gedanken anderer wahrnehmen und diese als Impulse für sein eigenes Denken fruchtbar werden lassen, ohne dabei die Urheberinnen und Urheber der Reflexionen zu vergessen.

Diese Fähigkeit öffnete ihm sprichwörtlich manche Türen, etwa zu seiner langen Freundschaft mit Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass, bei denen er des Öfteren „zu Hause“ war. Manche dürften daran zweifeln, ob man gleichzeitig mit beiden befreundet sein konnte. Norbert Honsza konnte dies durchaus und bezog daraus sogar wichtige Impulse für seine eigenen Forschungsarbeiten, wie seine Bücher über Grass und Reich-Ranicki zeigen, wo er biographische Einzelheiten über beide „verraten“ durfte, die sonst nur wenigen zugänglich waren. Darüber hinaus vertrat er, darin mit Grass übereinstimmend, die Position einer engagierten Literatur, die sich in Öffentlichkeit und Politik Gehör verschaffen sollte, in Polen wie in Deutschland. Honsza war schon sehr früh einer der wenigen polnischen Germanisten, der interkulturelle Themen für sich entdeckte und der schon lange vor der Wende internationale Kontakte mit wichtigen Germanisten nicht nur in Deutschland hatte.

Ich erinnere mich noch an viele andere Begegnungen, besonders aber steht mir jene noch vor Augen, als er 2003 den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen erhielt. Wir saßen beide im Publikum in der ersten Reihe neben Marcel Reich-Ranicki, der die Laudatio auf ihn halten sollte. Einer der weiteren Preisträger, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, schien mit einer voll Witz und Esprit gehaltenen Rede zunächst allen anderen Laudatoren und Preisträgern die Show zu stehlen. Wie es Hildebrandts Art war, sah er dabei auch nicht davon ab, sich ironisch zu der Preisverleihung und mit allem damit Verbundenen zu äußern, was nicht durchweg den Beifall seitens Reich-Ranickis fand.

Irgendwann hielt es dieser auch in Anbetracht der Länge des Vortrags seines Vorredners nicht mehr aus, begann schließlich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, bis ihm irgendwann ein nicht sehr schmeichelhaftes Wort auf Polnisch entfuhr. Daraufhin flüsterte Norbert Honsza ihm trocken zu: „Warten sie ab, Herr Reich-Ranicki!“ (Sie siezten sich bis zum Schluss trotz der Freundschaft, also bis zu Reich-Ranickis Tod.) „Sie sind ja auch noch an der Reihe, dann können Sie alles in Ihrem Sinne wieder zurechtbiegen. Das dürfte Ihnen doch nicht schwerfallen.“ Reich-Ranicki war beruhigt, fühlte sich geschmeichelt und es kam, wie Honsza es vorausgesagt hatte. Marcel Reich-Ranicki hielt eine kurze Einführung auf Deutsch, die eigentliche Laudatio damals aber auf Polnisch, zu „Ehren von Norbert Honsza und den Polen, die im Raum sind“, wie er betonte. Sie wurde dann simultan ins Deutsche übersetzt.

Diese kleine Anekdote verrät nicht nur viel über die Beziehung zwischen Reich-Ranicki und Norbert Honsza, sondern sie gibt auch Aufschluss über die Person Honszas, dem es stets um ein geistreiches Vermitteln von Literatur wie um persönliche und auch politische Versöhnung ging, auch wenn manche seiner Texte – je älter er wurde – durchaus „scharf geschrieben“ waren, wie er selbst das nannte. Das Vermitteln lag ihm besonders am Herzen, was ihm später in Rückblick auf die kommunistische Zeit zuweilen auch vorgeworfen wurde, worüber ich an dieser Stelle nicht urteilen kann und will. Wie ich ihn kennengelernt hatte, gehörte diese Haltung jedenfalls zu seiner Person.

Was wird von Norbert Honsza bleiben? Die Erinnerung an einen Menschen und Wissenschaftler, was er in seiner Existenz nicht trennte, der sich in erster Linie als ein Vermittler verstand, ein Vermittler zwischen Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik (er kam ursprünglich vom Journalismus), zwischen Schriftstellern, Wissenschaftlern, Studierenden und einem größeren Publikum sowie zwischen polnischer, deutscher[1] und tschechischer Germanistik.[2]

Dazu gab er über viele Jahre die viel beachtete internationale germanistische Zeitschrift Zblizenia / (Interkulturelle) Annäherungen heraus, deren Titel man als Quintessenz seiner wissenschaftlichen wie gesellschafts- und kulturpolitischen Ambitionen betrachten kann. Er war weit über die polnischen Grenzen hinaus ein bekannter und anerkannter Wissenschaftler, arbeitete an verschiedenen Hochschulen in Polen (neben seiner Alma Mater in Breslau in Oppeln, Częstochowa und Lodz) und bekleidete Gastprofessuren in Bielefeld, Bochum, Hamburg und Siegen. Insgesamt veröffentlichte er fast 30 wissenschaftliche Bücher (mehrere über Günter Grass und auch über Karl May) und viele hundert Artikel.

Uneitel wie er war, liebte er das Leben, ein gutes Glas Wein oder Bier, gutes Essen und alles Schöne, was zum Leben gehört, um nicht indiskret in zu viele Details zu gehen. So einen wie ihn wird es nicht mehr geben, dazu haben sich die Zeiten und akademischen Institutionen nach der Wende und vornehmlich im letzten Jahrzehnt zu stark verändert: einen Wissenschaftler und Menschen, dem es auf persönliche Kontakte ankam und der die Idee der deutsch-polnischen-tschechischen Freundschaft lebte. Vielleicht ist in einem Nachruf auf den Toten abschließend ein Zitat von Jewgeni Jewtuschenko (aus dem Gedicht „Uninteressante Menschen gibt es nicht“ in der Übersetzung von Volker Braun) angemessen: „Nicht Menschen sterben, Welten hören auf.“ Norbert Honsza starb am 16. Juli 2020 in Breslau im Alter von 87 Jahren.

[1] Er hielt engen beruflichen und persönlichen Kontakt zu einigen bekannten Germanisten wie Ulrich Engel (Mannheim), Hans-Gert Roloff (FU Berlin), Hans-Christoph Graf-von Nayhaus (Karlsruhe), Heinz Ludwig Arnold (Göttingen), Uwe H. Ketelsen (Bochum), Michael Lützeler (St. Louis) oder Alois Wierlacher (Bayreuth), um nur einige zu nennen, aber zugleich auch zum ehemaligen Bischof von Oppeln Alfons Nossol.

[2] Über lange Jahre arbeitete er am Germanistischen Institut der Universität in Ostrava (Ostrau), in der Stadt, die von seinem polnisch-tschechisch-deutsch kulturell geprägten Geburtsort Wodzisław Śląski (auf Deutsch: Loslau) nur 25 Kilometer entfernt lag.