Erwachen und Abschied

Der israelische Autor Nir Baram erzählt in „Erwachen“ eine sehr persönliche Geschichte vor dem Hintergrund des israelischen Alltags

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beit Hakerem ist ein gehobener Stadtteil im Südwesten von Jerusalem. Beamte, Lehrer, Rechtsanwälte, Ärzte wohnen hier, Teile des israelischen Establishments mit „der moralischen Überlegenheit ihrer sozialistischen Grundwerte“. So beschreibt es Nir Baram in seinem jüngsten und persönlichsten Roman Erwachen. In Beit Hakerem lebten auch Jonathan und Joël, die hier in den Achtzigerjahren ihre Jugendstreiche spielten und in kleinen Bandenkriegen Schläge einsteckten. Damals lag der Stadtteil noch am Rande eines unwirtlichen Wadis, das nicht betreten werden durfte. Jonathan und Joël waren Nachbarn über die Straße hinweg, ihre Freundschaft allerdings war eine spezielle. In „der Schule verzichteten sie darauf, ihrer Zuneigung Ausdruck zu verleihen“, umso inniger pflegten sie die Freundschaft in der Freizeit – es sei denn, sie waren miteinander in Streit und achteten über Monate hinweg nicht aufeinander. In den Neunzigerjahren dann verstrickten sie sich in konflikthafte Liebeleien, bevor sich ihre Lebenswege zwischen Jerusalem und Tel Aviv trennten. Aus Joël wurde ein Rechtsanwalt, Jonathan begann zu schreiben.

Der 1976 geborene israelische Autor und Journalist Nir Baram entstammt selbst diesem sozialdemokratischen Milieu, sein Großvater wie sein Vater waren Minister in Labour-Regierungen. Seit seinem ersten Roman Der Wiederträumer (2006, auf Deutsch 2009), der wie seine weiteren Bücher auf Deutsch übersetzt worden ist, nimmt er die israelische Gesellschaft kritisch in den Blick und plädiert für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern. Der Wiederträumer entwirft ein schreckliches Szenario: Tel Aviv versinkt im Wasser. In diesem Bild spiegeln sich uralte Alpträume von biblischen Sintfluten, der Vertreibung der Juden ins Meer und der Apokalypse. Die Fähigkeit seines Protagonisten Joel, Träume zu lesen, signalisiert, dass die alten kollektiven Träume neu geträumt werden müssen, sonst machen sie unglücklich, erzeugen Depressionen und zerstören auf Dauer die soziale Ordnung. Auch der Joël im neuen Roman Erwachen besitzt ein feines Sensorium für Stimmungen und Gefühle, er registriert die provinzielle Enge im Land stärker als sein Freund Jonathan.

In einem mehrschichtigen Rückblick erinnert sich dieser an die gemeinsame Freundschaft. Er ist inzwischen 37 und ein erfolgreicher Schriftsteller, der zu einem Literaturfestival nach Mexico City eingeladen worden ist. Nach Ende des Festivals zögert er jedoch seine Heimreise zu Schira und dem kleinen Itamar hinaus. Unschlüssig hängt er im Hotel herum. Es ist nicht allein Joël, der Jonathan hier festhält und zu einem „Gefangenen seiner Erinnerungen“ macht. Weitere Gespenster der Vergangenheit kehren ins Gedächtnis zurück, Lior etwa und Tali, in die beide sich Jonathan glücklos verliebte. Er denkt auch an seine Familie: den Bruder, den Vater und seine Mutter, die vor Jahren nach langem Leiden an Krebs verstarb. Alles vermischt sich und gibt Einblick in ein Leben, das so glücklich und zugleich unglücklich wie viele andere Leben war. Weil aber jedes Leben einzigartig ist, legt Jonathans mäandernde Erinnerungsarbeit allmählich zwei Epizentren frei, die den Erinnernden in den eigenen Augen eines Verrats schuldig sprechen. Vor Jahrzehnten hatte er Joël auf einer gemeinsamen Exkursion allein im Wadi zurückgelassen. Und Jahre später weigerte er sich, am Bett der verstorbenen Mutter zu trauern, er floh deren Anblick, um sich vor dem Bild des Todes zu retten. Zwei Ereignisse, mit denen sich Jonathan in Mexico konfrontiert – bis ihn die Nachricht von Joëls Freitod erreicht.

Seit Jahren warnt Nir Baram leidenschaftlich davor, geläufige Denkschablonen zu reproduzieren und jene Konflikte gering zu schätzen, welche die israelische Gesellschaft von innen heraus zersetzen. Im dokumentarischen Reportagenbuch Im Land der Verzweiflung (2016), das er auch erfolgreich verfilmt hat, hat er das besetzte Westjordanland bereist, um sich ein Bild der Verhältnisse in den Palästinensergebieten zu machen.

Sein jüngstes Buch nun lässt die politischen Verhältnisse vordergründig beiseite, wenn Baram über die Freundschaft von Jonathan und Joël berichtet. Während Jonathan die eigene Unschlüssigkeit literarisch zu bezwingen versucht, hat Joël kein solches Mittel. Er versinkt immer mehr in depressiven Zuständen, er verbarrikadiert sich im Elternhaus und selbst eine gemeinsame Reise mit dem Freund nach Irland vermag ihn nicht aus seinem inneren Loch herauszureißen. Das titelgebende Erwachen wird im Leben der beiden Freunde immer wieder von Ängsten und Abschieden aufgewogen, denen Nir Baram differenziert und eindringlich Gestalt verleiht. Die Beschreibung etwa, wie Jonathan seine Eltern beobachtet, wie sie nach einer verhängnisvollen ärztlichen Diagnose zu Hause Arm in Arm Fernsehen schauen, zeichnet so luzide wie diskret ein berührend schönes Bild. Erwachen ist ein sehr persönliches Buch, das ganz nahe an seine Figuren herangeht, ohne ihre Geheimnisse auszuplaudern. Die Freundschaft von Jonathan und Joël bleibt trotz allem ein faszinierendes Rätsel. Wer weiß schon, was im Inneren eines anderen Menschen, und sei es eines nahen Freundes, vor sich geht?

Die politischen Zustände bleiben am Rande jederzeit spürbar. Man braucht Joëls depressive Zustände nicht politisch zu lesen, seine Klage darüber, „wie man uns hier die Luft abgedreht hat“ und „wie klein und abgeriegelt alles war“, gibt dennoch einen Hinweis auf die gesellschaftliche Stimmung. So sind es auch diesbezüglich die feinen Zwischentöne, die den Roman auszeichnen: die jugendliche Hatz auf die Araber, die puerile Faszination für alles Militärische oder die feine Distinktion in Beit Hakerem, wenn Jonathans älterer Bruder Schaul die richtigen Sportschuhe aus New York schickt. Das sind vielsagende, entlarvende, vom Autor nie herablassend gesetzte Signale eines gesellschaftlichen Alltags, der in Jonathans Erinnerung jene Risse verrät, die den Staat Israel innerlich entzweien. Das Land drohe sich, sagte Nir Baram in einem Interview, in „ein neues jüdisches Ghetto“ zu verwandeln, „mit Mauern und allem, was dazugehört“.

Indem Jonathan seine Erinnerungen festhält, findet er einen Halt, so klein er auch sein mag. Seine ersten Notizen verfasste er für ein Tagebuch, das er „Abriss der Geschichte der Toten“ nannte. Fünf Seiten daraus legte er in einer ersten Verzweiflung über seine literarische Unfähigkeit auf das Bett seiner Eltern. Wie er später am Abend nach Hause kam, fand er die erste Seite wie ein kleines Kind in eine Wolldecke gewickelt in seinem Bett: „Er sah etwa ein Dutzend mit Rotstift ausgeführte Korrekturen. Hier und da war ein überflüssiges Wort gestrichen worden.“ Erwachen ist so auch ein Roman über eine literarische Erweckung. Der Roman ist Uri gewidmet, einem Freund von Nir Baram, der Selbstmord begangen hat. Trotz solcher persönlicher Bezüge warnt der Autor aber davor, das Buch allzu autobiographisch zu lesen. Subtil weist es über sich hinaus. 

Titelbild

Nir Baram: Erwachen.
Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
352 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265554

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