Vom Versuch, den Abgrund auszuleuchten

Sven Kramers erhellende Aufsatzsammlung über Literatur der Shoah

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man etwas wie die bürokratisch durchgeplante, industrielle (Massen)Vernichtung von Millionen Menschen angemessen in Worte fassen? Ist – und wenn ja wie – ein Schreiben über die Shoah möglich? Viel ist über diese Frage diskutiert worden und oft gab es zu den möglichen Antworten auf diese Frage zum Teil heftigen Streit – man denke nur an die Auseinandersetzungen um das berühmte Zitat von Theodor W. Adorno, dass das Schreiben eines Gedichtes nach Auschwitz barbarisch sei. Ellie Wiesel, Schriftsteller und Überlebender der Shoah, war überzeugt, dass Auschwitz nicht in der Form eines Romans wiederzugeben sei. Sein Leidensgenosse Imre Kertész wiederum sah in dieser literarischen Gattung den einzigen Weg, über dieses größte Verbrechen der Menschheit zu berichten. Wie also steht die Literatur zur Shoah?

Das aktuelle Buch von Sven Kramer, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg, beleuchtet einen bisher eher verborgenen Winkel der sogenannten Holocaustliteratur. Dieser Zweig der Literaturwissenschaft, u. a. von der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“ an der Universität Gießen maßgeblich vorangetrieben, befasst sich mit allen literarischen Werken, die das Schicksal der politischen, rassischen und anderen Opfergruppen der Nationalsozialisten zentral behandeln. Erfreulicherweise bedient sich Kramer aber schon begrifflich bei der vorzuziehenden Bezeichnung Shoah. Auch thematisch geht er über das hinaus, was bisher in diesem Kontext veröffentlicht wurde.

In dem Werk Über diesem Abgrund versammelt Kramer zehn eigene Aufsätze, die zwischen 2006 und 2020 erschienen sind und von ihm zum Teil überarbeitet wurden. Sechs dieser Aufsätze befassen sich mit literarischen Werken von H.G. Adler, Thomas Harlan und Peter Weiss, vier weitere Texte sind übergreifende Betrachtungen zur transnationalen Dimension von Literatur der Shoah sowie zu literarischen und linguistischen Diskursen. Auch wenn sich die Auswahl sowohl der Aufsätze als auch der besprochenen Themen Stück für Stück beim Lesen erschließt, wären einige einleitende und einordnende Worte am Anfang sehr wünschenswert und hilfreich gewesen. Allerdings fällt dieses Manko nicht groß ins Gewicht. Viel eher leidet die Lektüre an gelegentlich allzu theoretischen Passagen, in denen Kramer seine langjährige Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie nicht verbergen kann. Überwiegend gelingt es dem Autor allerdings, den/die Leser/in eindrucksvoll durch die von ihm vorgestellten literarischen Werke zu führen und sie nachvollziehbar in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Da aus Platzgründen hier nicht auf alle zehn Beiträge eingegangen werden kann, sollen nur kurz die bemerkenswertesten betrachtet werden.

Die ersten drei Aufsätze drehen sich um verschiedene Werke von H.G. Adler, dessen Prosa bisher völlig zu Unrecht (zu) wenig Beachtung fand. Am eindrücklichsten ist dabei der Text über den Briefwechsel von Adler mit Bettina Gross, der späteren Frau Adlers, zwischen 1945 und 1947. Kramer, der den bisher unveröffentlichten Briefwechsel im Archiv eingesehen hat, kombiniert hier auf wunderbare Weise literaturtheoretische Aspekte des Briefwechsels als historische Quelle mit sprachwissenschaftlichen Überlegungen (wie geht Sprechen über die Shoah) und literarischen Betrachtungen der Briefe. Die von Kramer herausgearbeiteten Themen wie Liebe und Shoah, die Gefühlswelten von Überlebenden (wie Adler einer war) und Exilant*innen (wie Gross eine war), die verschiedenen Verfolgungserfahrungen und die Situation der ehemals Verfolgten nach 1945 sind berührend und zugleich herausragende literarische Pionierarbeit. Nicht minder spannend ist seine erinnerungspolitisch geprägte Betrachtung von Adlers Roman Die unsichtbare Wand. Anhand des autobiografisch geprägten Romans eines Shoah-Überlebenden, der in Prag mithilft, das Jüdische Museum aufzubauen, zeigt Kramer, wie in der Nachkriegszeit um die Erinnerung an die Shoah gerungen wurde und sich eine Politik der sowie mit der Erinnerung entwickelte. Dabei geht er auch auf durchaus aktuelle Themen wie die Restitutionsdebatte und restaurative Tendenzen um das „Ende der Erinnerung“ ein. Stark linguistisch geprägt ist hingegen der Aufsatz über Adlers Roman Eine Reise, dessen Kern anhand des Beispiels „Abfall“ eine Betrachtung der „Sprache der Mörder“ ist. Klug legt Kramer dar, wie Adler hier mit Sprache umgeht, Sprache bewusst einsetzt und Adler – der schon 1955 in seinem Standardwerk Theresienstadt 1941 – 1945 eine Untersuchung der Lagersprache anfügte – so seinem Ziel einer sensibilisierten und damit aufgeklärten Sprache näher kommt.

Lag in den ersten Beiträgen des Buches der Fokus auf den Opfern, stellt Kramer in zwei weiteren Aufsätzen eine andere Perspektive dar. Anhand der Werke von Thomas Harlan verdeutlicht Kramer, wie der Sohn eines Täters (Veit Harlan, Regisseur des Propagandafilmes Jud Süß) mit dieser Verantwortung umgeht. Harlan wird zum Nazi-Jäger, recherchiert in polnischen Archiven nach Täter*innen und deren Verbleib in der Bundesrepublik und wird zu einem der Hauptzulieferer für die Täter-Prozesse der 50er und 60er Jahre. Zugleich aber ist Harlan literarisch produktiv. Kramer untersucht dabei zum einen zwei seiner Dramen über den Aufstand im jüdischen Ghetto Warschaus – Bluna von 1953 und Ich selbst und kein Engel von 1958. In vergleichender Perspektive analysiert Kramer hier sehr anschaulich einerseits den innerjüdischen Konflikt zwischen Assimilation und Konfrontation mit den Unterdrückern und andererseits den deutschen Diskurs der 50er Jahre über die Shoah sowie um das Verhältnis zu Juden und dem Staat Israel, in den die beiden Dramen eingebettet sind. Zum anderen betrachtet Kramer das Spätwerk Harlans (Rosa von 2000, Heldenfriedhof von 2006, Veit von 2011), anhand dessen die Auseinandersetzung mit den Tätern und dem Vater noch stärker in den Vordergrund tritt. Bemerkenswert ist hier vor allem, wie Kramer die besondere Stilistik Harlans aufzeigt: die Romane sind nicht durch eine stabile Identifikation von Täter-Opfer gekennzeichnet, sondern zeigen durch eine Vermischung von Täter- und Opfer-Trauma noch deutlicher die Verstrickungen der Täterschaft.

Zwei weitere hier besonders vorgestellte Aufsätze beschreiben übergreifende Themen. Zunächst widmet sich Kramer der transnationalen Erinnerung an die Shoah, wobei er sich auf den deutschsprachigen Raum konzentriert. Er arbeitet fünf Merkmale heraus, welche die grenzübergreifende Erinnerung prägen: die Sprache, die Übersetzungen, die Orte, die Tendenz der Globalisierung sowie generationelle Aspekte. Betrachtet man beispielsweise, welchen Einfluss auf die Diskurse in Deutschland die Werke von Primo Levi oder Imre Kertész hatten oder wie der niederländische Text einer Anne Frank in die deutsche Literatur „eingemeindet“ wurde, versteht man, wie transnationale Shoah-Literatur funktioniert. Ein wieder stärker linguistisch orientierter Beitrag untersucht das Verhältnis von Diktatur und Sprache. Vor dem Hintergrund einer Instrumentalisierung von Sprache will Kramer zeigen, wie sie in Texten der Exilpublizistik, in Texten der Sprachkritik und im literarischen Schreiben wirkt. Während die Abschnitte zu Sprachkritik (sie will die Sprache reinigen) und zu Literatur (sie muss akzeptieren, dass es keine „gute“ Sprache (mehr) gibt) trotz der hohen Fachlichkeit gut nachvollziehbar und interessant sind und auch Themen wie die Kritik an Klemperers LTI ansprechen, ist der erste Abschnitt erstaunlich blass. Kramer beleuchtet hier lediglich ein politisches Manifest von Brecht, Feuchtwanger und Heinrich Mann und leitet daraus den Schluss ab, Exilpublizistik würde Sprache ähnlich benutzen wie Diktaturen. 

Der an sich interessante Aufsatz über Tabus in literarischen Diskursen über die Shoah und den Nationalsozialismus kann ebenfalls nicht an das Niveau der oben skizzierten Beiträge anknüpfen, beschränkt er sich doch – mit Ausnahme einer Erzählung von Delius – auf die altbekannten Debatten um Walser, Grass und Fassbinder. Zwei weitere Beiträge befassen sich einerseits mit der Reaktion von nicht-verfolgten Deutschen auf sowie der Umgang nicht-jüdischer Widerstandsgruppen mit der Shoah am Beispiel von Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands und andererseits mit dem deutschen Diskurs über fremdsprachige Shoah-Literatur.

Kramers Buch ist keine leichte Lektüre – aber eine über die Maßen lohnenswerte. Er bietet nicht nur bisher unbekannte Einblicke in Literatur über die Shoah, über weite Teile ergänzt er seinen literarischen Blick zudem gekonnt mit theoretischen Überlegungen. Seine Aufsätze machen daher nicht nur Lust, die Werke von H.G. Adler oder Thomas Harlan selber zu entdecken, sondern sie vermitteln auch fundierte wissenschaftliche Aspekte zu Literatur im Allgemeinen und zur Shoah-Literatur im Speziellen. Kramer hat mit seiner Publikation ein wenig mehr Licht in das Dunkel dessen gebracht, was über die „Menschheitsdunkelheit“ Shoah geschrieben wurde – bitte mehr davon.

Titelbild

Sven Kramer: »Über diesem Abgrund«. Studien zur Literatur der Shoah.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
214 Seiten , 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826069451

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