Ist erzählte Zeit relativ?

Lukas Werner beschäftigt sich mit ‚Erzählten Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit‘

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erzählen und Beschreiben sind Vorgänge, die in der Zeit geschehen und dieser einerseits unterliegen, sie andererseits aber auch zu bedingen vermögen. Gerade in der literarischen Verarbeitung und Deutung von Realität, aber natürlich auch von Gefühlen ist die – beschriebene oder dargestellte – Zeit ein wesentliches Element. Dies gilt für die Gegenwartsliteratur wie für Literaturen der Vergangenheit. Lukas Werner hat sich in seiner hier überarbeiteten Dissertation, die an der Bergischen Universität in Wuppertal entstand und verteidigt wurde, einer historischen Narratologie der Zeit im Roman der Frühen Neuzeit gewidmet. Das Buch oder besser gesagt: sein Autor zeigt eine Perspektive auf, die erzählerische Faktoren, die Struktur der erzählten Welt und semantische Elemente zusammenbringt. Durch dieses gebündelte Vorgehen werden die vielfältigen und teils auch sehr widersprüchlichen Konzeptionen von erzählter beziehungsweise dargestellter Zeit in literarischen Texten der Frühen Neuzeit rekonstruiert. Damit wird deutlich gemacht, dass es auch in dieser literarischen Epoche keineswegs nur die eine Form und Möglichkeit gab, von und mit der Zeit zu arbeiten, sondern dass verschiedene Ebenen aufscheinen, die – wie grundsätzlich auch in anderen literarischen Epochen – Literatur zu einem besonderen Phänomen der Kultur machen.

Der Reiz dieser Vielschichtigkeit ist Leserinnen und Lesern geläufig und wird vom Verfasser auch eingangs auf den Punkt gebracht: „Absurde Abenteuergeschichten mögen auf den ersten Blick irritierend sein, doch sind sie häufig aufschlussreicher als ihre konventionell erzählten Pendants. Denn im Bruch mit den gängigen Erwartungen an einen literarischen Erzähltext und die in ihm entworfene Welt rücken sie ihre eigene Verfasstheit in den Vordergrund.“ Dieser Hinweis trägt nicht nur eine grundsätzliche Gültigkeit in sich, sondern wird von Werner auch im Hinblick auf einen der von ihm untersuchten literarischen Texte formuliert.

Dabei schlägt der Verfasser zumindest für die mediävistische Germanistik relativ ungewohnte Pfade ein, indem er „Zeit als Schlüsselkonzept frühneuzeitlicher Transformationsprozesse“ vorstellt, sich dabei aber explizit auf eine soziologische Basis stellt und dabei etwa Niklas Luhmann oder Max Weber als Kronzeugen anführt. Mit dem Bezug auf die „Historische Narratologie“ wird der Bezug deutlich germanistischer, aber auch hier wird – nach einem „historischen Forschungslängsschnitt“ – durch den Bezug auf gegenwärtige Narratologiekonzepte eine Einbindung in den aktuellen Diskurs sowie die Anbindung an eine über die Mittelalterdiskussion hinausweisende Perspektive ermöglicht.

Unter der Überschrift „Erzählte Zeiten: Dimensionalität der Relationalität“ nimmt Werner dann Kurs auf den Kern seiner Intentionen. Wesentlich ist ihm hierbei, „die Verbalisierung nicht allein in ihrer stilistischen Dimension aufzufassen, sondern in einem grundsätzlichen Sinne zu verstehen“, formuliert in Bezug auf die ‚Narratologie‘ Wolf Schmidts. Dieser über stilistische und damit artifiziell-textbezogene Aspekte hinausweisende Blick ermöglicht eine Synchronisierung von Text und (fiktionalisierter) Realität, auf die der Verfasser im Folgenden immer wieder zurückverweist.

Die theoretischen Überlegungen werden durch die herangezogenen Romanauszüge untermauert. Dass die Auswahl der Texte sowohl hinsichtlich der strukturellen beziehungsweise Fragestellungsebene als auch ihrer allgemeinen, das heißt textgeschichtlichem wie (sozio-)historischem Aussagewert ‚passen‘, steht außer Frage. Allerdings ist die gewählte Bezeichnung als „Beispiellektüre“ etwas sperrig und wirkt unangemessen schulmeisternd. Gleichwohl werden die herangezogenen Parameter adäquat auf die ausgewählten Texte respektive Textpassagen angewandt und bezeugen im Quer- und Längsschnitt stimmig die angepeilten „Dimensionen der Relationalität“. Wichtig erscheint mir auch, dass die „Beispiellektüren“ sehr breit gestreut sind und damit – auch wenn angesichts der Fragestellung und der darauf bezogenen sehr breit gefächerten Auswahl auf das erste Lesen hin keine tiefere Bekanntschaft mit der ausgewählten frühneuzeitlichen Literatur geschlossen werden kann – sicherlich doch das Interesse an einer vertiefenden Lektüre geweckt wird. Und es steht den Interessierten nichts im Wege, dieses Interesse durch das Lesen des gesamten Werks zufriedenzustellen.

Dies ist umso zutreffender, als anhand der Beispiele zunächst Parameter ‚abgearbeitet‘ werden, das heißt, die Überbegriffe „erzählerische Dimension“, „diegetische Dimension“ sowie „semantische Dimension“ mit ihren Substrukturen vorgestellt und an den erwähnten Texten veranschaulicht werden. Damit verbunden ist ein erweiterter Zugang zu den jeweiligen Kategorien, der durch die gut gewählten Beispiele anschaulich gemacht wird. Leserinnen und Leser werden nicht nur – um einen im schulpädagogischen Kontext immer wieder strapazierten Begriff zu verwenden – ‚abgeholt‘, sondern, und das macht diese ‚Reise‘ so reizvoll, weitergeführt. In jedem Falle aber werden die Grundlagen gelegt, auf denen der Verfasser seine Argumentation und die daraus folgenden Ergebnisse im Weiteren aufbaut. Diesen Schritten folgt eine Zusammenfassung, die sowohl das bis dahin Formulierte zusammenfasst als auch auf das Folgende vorbereitet, denn „herausgearbeitet werden soll – im Rückgriff auf die vorgeschlagenen analytischen Begriffe – die sich bereits abzeichnende Spannung zwischen temporaler Homogenität und Heterogenität“.

Dieses Vorhaben geht Werner anhand Veit Warbecks Schöner Maglana, dem Ritter Galmy, der Historia von D. Johannes Fausten, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch sowie Die Asiatische Banise und der Insel Felsenburg an. Damit ist eine repräsentative und interessante Auswahl getroffen, anhand derer der Werner seine gewissermaßen netzartige Argumentation angemessen ‚abarbeiten‘, das heißt belegen und in ihrer Gültigkeit und der damit einhergehenden Folgerichtigkeit nachweisen kann. So werden anhand der Verbindung zwischen realen historischen Ereignissen – im Falle der Schönen Magelona etwa der Verlobung des sächsischen Kurprinzen Johann Friedrich mit Prinzessin Sibylle von Cleve – die Rahmenbedingungen für die Entstehung des literarischen Textes erläutert, womit die Dichtung in einen gesicherten kontextualen Rahmen gestellt wird.

Stimmig ist der argumentative Aufbau hinsichtlich der für den Blick auf die interdependenten Vernetzungen zwischen Homo- und Heterogenität herangezogenen literarischen Texte. Deutlich wird erkennbar, dass – und damit wird auch gewissermaßen die individuelle Erfahrung des gelebten Lebens immer wieder aufs Neue konfrontiert – Zeit in all ihrer Widersprüchlichkeit eine reale Erfahrung, aber hier eben auch ein stilistisches Mittel ist und generell sein kann. Dabei weist Werner nach, dass in den herangezogenen Texten immer wieder ähnliche Elemente in der Behandlung und Betrachtung von Zeit charakteristisch sind. So lassen sich, wie bereits angesprochen, Rückgriffe auf tatsächliche historische Ereignisse ebenso erkennen wie etwa die Einbettung der erzählerischen ‚Analepsen‘ in einen verbindlichen Rahmen mit kohärentem Zeitfluss sowie grundsätzlich eine starke Betonung der zeitlichen Koordination der Handlung in verschiedener Gradierung bestimmend.

Wenn das Faust-Motiv als Beleg für eine den ‚normalen‘ irdischen Rahmen sprengende literarische Verarbeitung des Phänomens der ‚Zeit‘ gewählt wird, ist das nicht allein angesichts der aus heutiger Sicht vermutlich rückwirkend alles überschattenden Bearbeitung des Stoffes durch Johann Wolfgang von Goethe zu verdanken, sondern dem Potenzial, das dieses Motiv seit jeher in sich trägt. Über Goethe lässt sich auch eine Verbindung zum vierbändigen Roman Insel Felsenburg herstellen: Der Klassiker erwähnt in Dichtung und Wahrheit die Lektüre seiner Kindheit und Jugend, neben etwa der Schönen Magelone oder Dil Ulenspiegel auch diesen Roman. Diese geheimnisvolle Insel korrespondiert – darauf verweist Werner – selbstverständlich mit Daniel Defoes Robinson Crusoe; wo hier jedoch das Exil Metathema sei, ist es dort das Asyl. So werden durch die Protagonisten des vierbändigen Romans Retrospektiven mit futurologischen Erwartungen verknüpft, die Zeit also in mehrfacher Ebene dargestellt und dadurch in ihrer Relativität für die Erzähl- aber auch Erklärungsstruktur für die Handlung erschlossen. Zeit ist hier das subkutan wirksame Element, das in seiner Unterschwelligkeit mitunter nur bedingt fassbar erscheint, aber auch hier wie in den anderen Beispielen immer ein wesentliches Element von Darstellung und Zielsetzung darstellt.

Insgesamt werden verschiedene Zugangs- respektive Darstellungsweisen zum literarischen Phänomen ‚Zeit‘ anhand unterschiedlicher Texte der Frühen Neuzeit aufgezeigt, wobei der Autor eine große Disparatheit konstatiert und auch konstatieren muss. Dies ist zum einen einer der Literatur grundsätzlich immanenten Heterogenität, darüber hinaus aber auch und gerade dem Kontext frühneuzeitlicher Literatur als Reflex auf eine äußerst dynamische Entwicklung geschuldet. So nimmt das Fazit Werners nicht wunder. Dort heißt es: „Wie der Blick auf diese […] Klärung des Verhältnisses zwischen literarischem Weltentwurf und größerer kulturgeschichtlichen Entwicklungen deutlich macht, lassen sich die Tendenzen in der Frühen Neuzeit schwerlich auf einen Nenner bringen. Nimmt man die Ergebnisse zusammen, so muss man von einem ausgeprägten Pluralismus sprechen, der das Verhältnis von Text und Kontext kennzeichnet.“

Ein anderes Ergebnis wäre – so wünschenswert dies auch sein mag – kaum vorstellbar, eben weil nicht nur die Werke selbst, sondern die Veränderungen im realgeschichtlichen Kontext diese Diversität generierten. Das bedeutet jedoch nicht, der vorliegenden Publikation eine Abfuhr zu erteilen. Allein die Argumentations- und Gedankengänge sowie die diskutierten und nachgewiesenen Details im Entwurf der herangezogenen Texte lassen die Begegnung mit den Erzählten Zeiten als anregende Beschäftigung erscheinen, die Interessierten ans Herz gelegt sei.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Lukas Werner: Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit.
De Gruyter, Berlin 2018.
416 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110565539

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch