Ist unser Leben von Angst bestimmt?
In „Gesellschaft in Angst? Zur theoretisch-empirischen Kritik einer populären Zeitdiagnose“ untersucht Judith Eckert die Bedeutung lebensweltlich realer Angsterfahrungen und warnt vor methodologisch unreflektierter Produktion von Artefakten
Von Gertrud Nunner-Winkler
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1986 erschien Ulrich Becks Risikogesellschaft. Das Buch erzielte einen ungewöhnlichen Verkaufserfolg, wurde in viele Sprachen übersetzt und in mehr als 20 Ländern publiziert. Nicht zuletzt trug dazu auch bei, dass sich kurz nach seinem Erscheinen die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete: In erschreckender Weise belegte sie die Aktualität und Realitätsgerechtigkeit von Becks Analyse der Gefahren moderner Technologieentwicklung. Auch das Buch Gesellschaft in Angst? von Judith Eckert trifft den Nerv der Zeit. Kurz nach seiner Veröffentlichung ist die Pandemie Covid-19 ausgebrochen und hat die Welt in Angst versetzt. Leider dürfte das jedoch diesem Buch keinen vergleichbaren Erfolg bescheren. Dafür gibt es Erklärungen. Der Unterschied fängt schon beim Stil an: Leselust steigernde Wortneuschöpfungen und einprägsame Metaphern, schlagwortartige Überspitzungen und vereinfachende Verdichtungen im Bestseller kontrastieren mit der nüchternen Klarheit der Diktion, mit theoretischer Präzision und Stringenz der Argumentation, mit professioneller Detailliertheit der methodologischen Reflexionen und einer grundlegend empirischen Orientierung. Doch entscheidender ist der Ansatz selbst. Judith Eckert setzt nicht auf holistischen Reduktionismus, der alle Strukturmerkmale komplex ausdifferenzierter Sozialsysteme auf ein einziges Merkmal zurückführt wie dies in plakativen Globaldiagnosen à la Freizeit-, Informations-, Wissens- oder eben auch Risikogesellschaft geschieht. Sie verfehlt also, was Lothar Müller unlängst leicht süffisant in der SZ als Anerkennungsvoraussetzung in der heutigen Soziologie karikiert hat – die Erfindung eines neuen Gesellschaftsbegriffs. Im Gegenteil: Genau dagegen richtet sich ihre Untersuchung.
Konkret hinterfragt sie die Konzeption einer ‚Gesellschaft der Angst‘. So benannte Heinz Bude seine unlängst erschienene, zweifellos brillante, theoretisch inspirierte aber weitgehend spekulative Gesamtschau, die sich primär auf zeitgeistwiderspiegelnde feinsinnige Beobachtungen aus Filmen, Romanen etc. stützt. Unmissverständlich annonciert Eckert ihr Vorhaben als Gegenentwurf: Im Titel ist die Angstdiagnose mit einem Fragezeichen versehen, der Untertitel kündigt Kritik und Rekurs auf Empirie an. Die Arbeit ist Teil eines vom BMBF geförderten Verbundprojektes zu Fragen der Sicherheitsforschung. Mit über 400 zufällig ausgewählten Personen wurden Leitfadeninterviews geführt, in denen u.a. persönlich relevante und vorgegebene Unsicherheitsthemen (z.B. Kriminalität, Terrorismus, Naturkatastrophen) offen exploriert wurden. Aus diesen Interviews wählte Eckert 39 inhaltlich maximal kontrastierende Fälle aus. Sie wertete diese nach einem eigenständig entwickelten und detailliert begründeten ‚integrativen Basisverfahren‘ aus, das bei der hermeneutischen Sinnrekonstruktion auch Implizites sowie die Beziehung zwischen Interviewer und Befragten zu berücksichtigen sucht.
Einleitend werden zentrale Begriffe geklärt. Als Unsicherheit wird das mögliche Eintreten von Ereignissen bezeichnet, die im Kontext von Vorstellungen eines guten Lebens negativ bewertet werden. Unsicherheit kann physische (Unverletzlichkeit von Leib, Leben, Eigentum), soziale (Verlässlichkeit der eigenen Position) und symbolische Aspekte (Gewissheit eigener Überzeugungen) betreffen und sich auf ‚objektivierbare‘, auch auf primär medial diskutierte gesellschaftliche Gefährdungslagen oder aber auf individuelle lebensweltliche Erfahrungen beziehen. Letztere möchte Eckert erfassen. Sie spricht dann von Angst. Dabei unterscheidet sie (mehr oder weniger intensiv) tatsächlich erlebte Ängste von der Kommunikation von Angst, die zur Selbstpositionierung oder zur Legitimierung eigener Anliegen eingesetzt werden kann. So etwa erlauben dargestellte Bedrohungsszenarien sich von Kriminellen, Hartz IV Empfängern oder Ungebildeten abzugrenzen und auf diese Weise als anständiges, leistungsbereites, aufgeklärtes Gesellschaftsmitglied zu präsentieren. Oder die Sprache der Angst wird genutzt, um politische Forderungen, etwa nach Ausschluss oder Bestrafung gefährlicher, nicht-produktiver, nicht-deutscher ‚Anderer‘, argumentativ zu untermauern. Dabei geht es allerdings zumeist weniger um persönliche Ängste als um Ärger über unterstellte Ungerechtigkeiten.
Wie sehen nun die Befunde aus? Diese betreffen zum einen konkrete Inhalte: Wovor haben die Befragten wie viel Angst? Zum andern – vielleicht noch bedeutsamer – geht es um ein generelles methodologisches Problem: In welchem Umfang und mit welchen politischen Implikationen präformieren eingesetzte Verfahren die jeweils gefundenen Ergebnisse? Für die erste Frage sind die auf die je spezifische Lebenslaufphase bezogenen Vorstellungen vom guten Leben entscheidend. In der Postadoleszenz geht es um berufliche Einmündung, um Zukunfts- und Versagensängste, um Orientierungssicherheit und die Ausbildung einer (auch geschlechtsbezogenen) Identität. Dabei finden sich auch ‚abweichende‘ Vorstellungen vom guten Leben, beispielsweise eine Normalisierung oder gar Positivwertung von Gewalt im Kontext männlicher Jugendkultur. Im Erwachsenenalter beziehen sich die Ängste auf Existenzsicherung und Abstiegssorgen, das mögliche Scheitern von Beziehungen, Unfälle oder Krankheiten, die Vereinbarkeit von beruflichem Fortkommen und Versorgung von Kindern oder pflegebedürftigen Eltern. Es geht um soziale Anerkennung und die Abgrenzung gegen Leistungsunwillige oder Kriminelle, die „den Sozialstaat abschöpfen“ oder die unzureichend bestraft werden. Im Rentenalter fürchten die Menschen körperliche Einschränkungen, Pflegebedürftigkeit, Verlust der Autonomie, Gefährdung der symbolischen Ordnung der Gesellschaft und die Entwertung der eigenen Lebensform durch kulturellen Wandel.
Die zentralen Ängste betreffen also alle drei benannten Aspekte von Sicherheit in je altersgemäßer Ausformulierung: Im Bereich von Erwerb und Rente geht es um materielle Absicherung, im Bereich des gesellschaftlichen Lebens um soziale Anerkennung und Teilhabe, im soziokulturellen Bereich um Orientierungssicherheit und symbolischen Status. Lebensweltlich weitgehend irrelevant sind hingegen genau die Ängste, die in auf Sicherheit fokussierenden Forschungen, Förderprogrammen, politischen und medialen Diskurse im Zentrum stehen – etwa Terrorismus, Naturkatastrohen, technische Großunglücke. Werden solche Themen vorgegeben, sprechen die Befragten eher über allgemeine als über ihre persönliche Sicherheit und wenn sie Emotionen äußern, spiegeln diese eher herrschende Gefühlsregeln als persönliche Empfindungen wider (z.B. Umweltprobleme sind schon „ne Sache, wo man Angst haben muss“). Solche Äußerungen verweisen eher auf eine Selbstdarstellung als informiertes Gesellschaftsmitglied als auf ein angstvolles Individuum.
Die Analyse von Angst als real erfahrener Emotion zeigt: Die meisten leben weitgehend sicher und fühlen sich weitgehend sicher. Aber das Reden über Angst erlaubt, sich selbst positiv darzustellen und politischen Forderungen (z.B. Ausschluss, Bestrafung ‚Anderer‘) Nachdruck zu verleihen. Insofern wäre es angemessener – so Eckerts Bilanz – „statt von einer Gesellschaft in Angst von einer Kommunikationskultur der Angst zu sprechen“. Diese hat sich verbreitet, weil Sicherheit zu einem zentralen Wert aufgestiegen ist und das Sprechen über Emotionen als authentisch und unbezweifelbar gilt.
Natürlich erlaubt die Analyse von knapp 40 Interviews keine Aussage über statistische Repräsentativität. Aber die Überzeugungskraft der Thesen verdankt sich nicht allein den Verweisen auf weitere stützende Studien, sondern vor allem den methodologischen Reflexionen, die Eckert am Material der vorliegenden Studie illustriert. Ausgangspunkt ist die gewählte Semantik. Das Anschreiben präsentierte das Forschungsinteresse so: „Wie sicher fühlen sich die Deutschen? Wodurch fühlt sich die Bevölkerung verunsichert, welche Risiken und Gefahren werden als Bedrohung wahrgenommen?“ Sicherheit wird umgangssprachlich zumeist im Sinne physischer Unversehrtheit verstanden. Die Rede von Risiken und Gefahren impliziert deren externe und objektive Existenz. Ihre Wahrnehmung als Bedrohung hebt die kognitive Komponente hervor. Der Interviewpartner wird nicht als Individuum adressiert, dessen persönliche Ängste – auch in Bezug auf soziale Anerkennungs- oder Orientierungsängste – interessieren, sondern als zufällig ausgewählter Repräsentant ‚der Deutschen‘. Eine unpersönliche, bürokratisch am Leitfaden orientierte Interviewführung erfragt dann auch eher theoretisches Wissen um medial breit diskutierte Probleme von Kriminalität, Terrorismus, Migration ec. und eröffnet wenig Freiraum für episodisch-szenische Erzählungen, in denen lebensweltlich relevantes persönliches Angsterleben zur Sprache kommen könnte. Kurz: Ergebnisse sind beeinflusst von methodischen Entscheidungen. Direkt erfragte Bewertungen vorgegebener Sicherheitsthematiken spiegeln nicht unbedingt lebensweltlich erfahrene Ängste wider und sie bleiben dem traditionellen Verständnis staatlicher Sicherheitspolitik verhaftet. Die Wissenschaft aber sollte – auch wenn sie vom politischen Agenda-Setting durch einschlägige Förderprogramme profitiert – das ‚verängstigte Subjekt‘, das sie selbst mit hervorgebracht hat, nicht reifizieren.
Gesellschaft in Angst? ist ein wichtiges Buch. Informativ sind die Darstellungen von Klassikern der Risikoforschung und deren Einbettung in die neuere Forschungslandschaft. Aufklärend sind die datengeleiteten Korrekturen an modischen Globaldiagnosen. Bahnbrechend aber ist die, nicht allein wissenschaftlich sondern auch politisch brisante, empirisch sorgfältig belegte Warnung: Methodologische Vorentscheidungen, die von gesellschaftlichen und politischen Diskursen geprägt sind und verstärkend auf diese zurück wirken, können Artefakte produzieren.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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