Eine Autorin, die im Krimi-Genre zeitgemäße, realistische Maßstäbe setzte

Zum 100. Geburtstag der britischen Krimischriftstellerin P. D. James

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht alle literarischen Krimiwege auf der britischen Insel führen ins berüchtigte Stadtviertel Soho im Londoner Westend. Auch das ländliche England mit seinen idyllischen Landhäusern, den Cottage-Gärten und Dorfläden ist häufig die Kulisse für Verbrechen – so ließen es uns jedenfalls Krimischriftstellerinnen wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Minette Walters oder Ruth Rendell glauben. Sie haben seit vielen Jahrzehnten die englische Kriminalliteratur, speziell den Detektivroman, dominiert. Die dörfliche Szenerie war aber nicht nur der Tatort für seichte Landkrimis, hier geschahen durchaus brutale Verbrechen mit ausreichend Blutvergießen. Besonders mit Elizabeth George oder P. D. James veränderte sich das mörderische Handwerk in Richtung Kaltblütigkeit und Grausamkeit.

Phyllis Dorothy James war eine der einflussreichsten britischen Kriminalschriftstellerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Geburtstag sich nun zum 100. Mal jährt. Sie wurde am 3. August 1920 in Oxford geboren. Der strenge Vater arbeitete als Angestellter bei der britischen Finanzbehörde. Als die kleine Phyllis vier oder fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Ludlow in der Grafschaft Shropshire, die durch ihre Erzvorkommen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Wiege der industriellen Revolution in England wurde.

1931 siedelte die Familie schließlich nach Cambridge über, wo Phyllis die Cambridge High School besuchte. Da der Vater wenig Verständnis für die Studienabsichten seiner Tochter zeigte, musste sie bereits mit 16 Jahren zum Familienunterhalt beitragen. Zeitweise arbeitete sie bei einer Finanzbehörde, ehe sie beim Cambridge Festival Theatre eine Anstellung fand. Hier lernte sie den Medizinstudenten Ernest Connor Bantry White kennen; die beiden heirateten 1941. Später war der Ehemann mit dem Royal Army Medical Corps in Indien stationiert und geriet nach Kriegsende in japanische Kriegsgefangenschaft. Er kehrte als psychisches Wrack zurück und war nicht imstande, sich um die Familie mit inzwischen zwei Töchtern zu kümmern. 1964 nahm er sich schließlich das Leben.

So musste Phyllis den Lebensunterhalt für die vierköpfige Familie allein bestreiten. Ab 1949 arbeitete sie in der Verwaltung des National Health Service, wo ihrer Aufsicht mehrere psychiatrische Polikliniken unterstanden. 1968 wechselte sie dann in die Abteilung für Kriminalitätsbekämpfung des britischen Innenministeriums. Die Berufserfahrungen dieser Jahre flossen später in einige ihrer Bücher ein und verliehen diesen eine außerordentliche Authentizität. Erst mit über 40 Jahren, nachdem sie bereits einen guten Teil ihrer erfolgreichen Beamtenlaufbahn hinter sich hatte, begann sie mit dem Schreiben – unter ihrem Mädchennamen P. D. James.

1962 erschien mit Cover her Face (dt. Ein Spiel zuviel) ihr erster Roman, ein typischer englischer Landkrimi mit sozialkritischen Zügen, der noch ganz den Stil und die Nachfolge von Agatha Christie verriet. Bereits in ihrem Debüt wurde der Detective Chief Inspector Adam Dalgliesh von Scotland Yard eingeführt. Der gutaussehende Witwer, Anfang vierzig, besitzt eine ungewöhnliche Kombinationsgabe und pflegt einen weltmännischen Stil. Er fährt (später) einen Jaguar, liebt Jazz und hat einen Hang zur Poesie, denn mit Gedichten versucht er den frühen Verlust von Frau und Kind zu verdrängen.

Für ihren Erstlingsroman erhielt James auf Anhieb positive Kritiken, wobei die meisten annahmen, dass sich hinter P. D. James ein Autor verberge. Besonders die Figur des Ermittlers wurde ausdrücklich gelobt: „Mit Inspektor Dalgliesh hat sie einen Charakter geschaffen, der von sich reden machen und auf den sie zweifellos zurückgreifen wird, wenn es darum geht, weitere P.-D.-James-Kriminalfälle zu lösen.“ Und so sollte es tatsächlich kommen …

Bereits ein Jahr später ließ James den zweiten Roman mit Commander Dalgliesh folgen: A Mind to Murder (dt: Eine Seele von Mörder). Danach wurden die Abstände der Erscheinungstermine größer, denn für jeden neuen Kriminalfall betrieb die Autorin intensive Recherchen. In insgesamt vierzehn Kriminalromanen war der stoische Kult-Ermittler Dalgliesh der Protagonist, der in der Gunst des Lesepublikums mit einem Hercule Poirot (von Agatha Christie) oder einem Lord Peter Wimsey (von Dorothy L. Sayers) gleichzog. In The Private Patient (2008, dt. Ein makelloser Tod) hatte er schließlich seinen letzten Auftritt. Über einen Zeitraum von 46 Jahren vollbrachte er detektivische Meisterleistungen, die in den 1980er und 1990er Jahren auch vielfach verfilmt wurden, wobei der englische Schauspieler Roy Marsden zumeist Adam Dalgliesh verkörperte.

James, die sich erst ab 1971 ganz dem Schreiben widmen konnte, hat auch noch weitere Romane geschrieben, u.a. die beiden Kriminalromane An Unsuitable Job for a Woman (1972, dt. Ein reizender Job für eine Frau) und The Skull beneath the Skin (1982, dt. Ende einer Karriere) mit der blutjungen Ermittlerin Cordelia Gray, die eine der ersten, wenn nicht überhaupt die erste Privatdetektivin war – zumindest in der britischen Krimi-Szene.

Neben einigen Kurz-Krimis, die James für Weihnachts-Ausgaben verschiedener Zeitschriften und Magazine verfasste, entstanden 1992 der Science-Fiction-Roman The Children of Men (dt. Im Land der leeren Häuser) und mit Death Comes to Pemberley (2011, dt. Der Tod kommt nach Pemberley) eine Fortschreibung des Romans Stolz und Vorurteil von Jane Austen, in dem James in die berühmte Liebesgeschichte eine klug inszenierte Krimihandlung einbaute. Vom 3. August 1997 an führte sie genau zwölf Monate lang Tagebuch, gespickt mit vielen Erinnerungen, das 2000 als Autobiografie Time to Be in Earnest (dt. Die Zeit der Ehrlichkeit) erschien. Neben ihrem Alltag gab sie hier auch Einblicke in ihren Schreibprozess und setzte sich mit der Entwicklung und dem Wesen des Kriminalromans auseinander, wobei sie den „Realismus des Schauplatzes, die psychologische Subtilität der Charakterzeichnung, das soziale Anliegen sowie die Glaubwürdigkeit“ betonte. Am 27. November 2014 starb P. D. James im Alter von 94 Jahren in Oxford.

P. D. James erwies sich als eine Meisterin des realistischen Kriminalromans, indem sie auch die dunkelsten Winkel der menschlichen Psyche erforschte. Geprägt von bestechenden Charakterstudien und komplexen Handlungen wird aus einer Anzahl von möglichen Verdächtigen schließlich der Schuldige ermittelt. Meist handelt es sich um mysteriöse Verbrechen mit einem grausam herbeigeführten Tod. P. D. James, weltweit als „Queen of Crime“ gerühmt, wurde für ihr literarisches Werk mehrfach ausgezeichnet – u.a. mit den höchsten Auszeichnungen für Krimiautoren in Großbritannien und den USA – dem „Diamond Dagger“ und dem „Grand Master Award“.

Außerdem wurde sie 1983 von der Queen in den „Order of the British Empire“ aufgenommen und 1991 zur „Baroness James of Holland Park“ erhoben. Auch gesellschaftlich war James äußerst aktiv und mischte sich immer wieder in die Politik ein. Sie war Vorsitzende des Society of Authors, einem Beirat des BBC, und hatte seit 1991 für die Konservativen einen Sitz im Oberhaus inne. Darüber hinaus war sie eine begehrte Gastdozentin – in Großbritannien und den USA unterrichtete sie Kreatives Schreiben. Kurz vor ihrem Tode hatte sich die Schriftstellerin noch gegen die schottische Unabhängigkeit stark gemacht.

Für den deutschen Leser werden die Dalgliesh-Kriminalromane seit Jahren vom Verlag Droemer Knauer in modernisierten Neuausgaben und einheitlicher Ausstattung herausgebracht. Zuletzt – gewissermaßen als Jubiläumsband – der achte Fall des Kult-Ermittlers: Vorsatz und Begierde (Devices and Desires, 1989). Handlungsort ist wie in den meisten James-Krimis East Anglia. Die beschauliche Küste von Norfolk wird von einem Serienmörder heimgesucht, der junge Frauen auf grausamste Weise tötet und den alle nur den „Whistler“ („Pfeifer“) nennen. Als die bildhübsche und etwas leichtsinnige Hilary Robarts, Abteilungsleiterin in einem nahegelegenen Atomkraftwerk, erwürgt und übel zugerichtet aufgefunden wird, vermuten alle zunächst: ein weiteres Mordopfer des „Whistlers“. Doch dieser hatte zuvor in einem Hotelzimmer Selbstmord begangen. Wer also hat die junge Frau auf dem Gewissen?

Adam Dalgliesh, der eigentlich auf Besichtigungstour ist – er hat in der Gegend eine alte Windmühle geerbt –, wird unfreiwillig in die Ermittlungen hineingezogen, die ihn schließlich in das Arbeitsumfeld der Ermordeten führen, wo er hinter die glänzende Fassade von Machtbefugnissen und Fortschrittglauben blickt. Neben der Auflösung des Kriminalfalls reflektiert die Autorin auch philosophische und moralische Probleme wie Umwelt, Kernenergie, Geburtsrecht und Abtreibung. Das Atomkraftwerk und die alte Mühle sind gewissermaßen die Sinnbilder für diesen Zwiespalt. Am Ende muss Dalgliesh jedoch erkennen, dass mit der Wahrheit, die endlich ans Tageslicht gekommen ist, die ethische Ordnung nicht wiederhergestellt ist: „Aber das Böse endete nicht mit dem Tod eines Bösen. Irgendwo mochte in diesem Moment ein neuer Whistler seine furchtbare Rache gegen die Welt planen. Doch das lag in einer unvorhersehbaren Zukunft.“

Titelbild

P. D. James: Vorsatz und Begierde. Kriminalroman.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2020.
544 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783426306987

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

P. D. James: Der Tod kommt nach Pemberley. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2013.
383 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783426199626

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch