Wiederholung ist der Sinn des Lebens

Der philosophische Roman „Was wir voneinander wissen“ handelt von der lähmenden Angst vor falschen Entscheidungen – und dem Weiterreichen von Generation zu Generation

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ich-Erzählerin im neuen Roman Was wir voneinander wissen der jungen britischen Schriftstellerin Jessie Greengrass versucht, im Leben ihrer Großmutter, in der Einsamkeit nach dem Verlust der Eltern sowie in den Überlieferungen wichtiger Persönlichkeiten der Medizingeschichte Antworten auf existenzielle Fragen zu finden. Will ich ein Kind bekommen? Was ist der Sinn des Lebens? Was sind wir anderes als die Summe aller Interaktionen – und was bedeutet das?

Der Vater wandte sich von der Familie ab und verließ sie. Die Mutter wurde vom Krebs zerfressen. Der Tod ihrer Mutter erschien der Ich-Erzählerin wie ein plötzliches Ereignis, „das in Zeitlupe ablief, ein einzelner erschreckender Augenblick, auf Monate ausgedehnt“. Der Tod wandelte ihr Leben „zu einem uferlosen Gewässer“ in dem sie „haltlos herumtrieb“. Obendrein wurde ihr eine Rolle als „Kuratorin“ aufgenötigt, mit der Aufgabe, „das Geröll einer beendeten Lebenszeit aufbewahren zu müssen“. Sie fühlte die Vergänglichkeit und stellte fest, „dass jedes Objekt durch den langen Nichtgebrauch zu einer Imitation seiner selbst verkommen war“. Gegenstände schienen ihre Bedeutung verloren zu haben. Nur ein Notizbuch behielt sie zur Erinnerung – und beraubte sich mit der womöglich überhasteten Entsorgung des gesamten Hausstands aller Verbindungen und somit der Möglichkeit zur Trauer, ahnt der Leser rasch. Denn die Ich-Erzählerin will ihre geliebte Mutter nicht vergessen, sie war nur nicht in der Lage, sich der Trauer zu stellen. So klaffen auch lange nach der Beerdigung Wunden, die zu migräneartigen Anfällen und Panik führen. Mit der Zeit wird der Schmerz kleiner, doch der Verlust größer.

Die Erzählerin stammt aus einer Familie, in welcher Wissen wichtig ist: „Lernen war das Ziel, Weiterlernen die Belohnung“. Ihre Großmutter – im Roman stets distanziert respektvoll „Doktor K.“ genannt – praktizierte in Hampstead Heath als Psychotherapeutin, analysierte routiniert auch Tochter und Enkelin und verlangte Reflexion. Die Ich-Erzählerin wünscht sich, sie hätte sich in der einsamen Zeit nach dem Tod ihrer Mutter erinnert, wie sie mit dem zersplitternden Leben und der Kälte  reflektierend hätte umgehen können, um sich selbst zu durchschauen. Halt findet sie bei ihrem Partner Johannes.

Lange schienen die gemeinsamen Vorlieben von Johannes und der Erzählerin, die Synchronisation zweier Leben im alltäglichen Allerlei mit trivialen Haushaltsangelegenheiten, ausreichend. In der Natur überwindet sie schließlich ihre Ängste; nach zehn Tagen Wandern in Cornwall – unter den Eindrücken des Zeltens, der Abendsonne, der Salzschicht aus Schweiß und getrockneter Gischt auf der Haut – steht der Entschluss fest, nun ein Kind zu bekommen. Mit dem Entschluss verschwinden die Kopfschmerzen: „Ein Ruck war durch mein Leben gegangen, und der Tod meiner Mutter war nicht mehr Teil der Gegenwart, sondern Vergangenheit“.

Sie lernt, dass die Wiederholung der Sinn des Lebens ist – das Trauma der Geburt zu durchleben, um selbst das Kind zu Bett zu bringen, wie man einst zu Bett gebracht worden war, das Kind so gut es geht vor Schmerzen und Gefahren zu beschützen und es schließlich dennoch loslassen zu müssen, wie man selbst in ein eigenes Leben losgelassen wurde. Wissen und Wesen werden von Generation zu Generation weitergereicht.

Die Ich-Erzählerin schweift immer wieder ab, verlässt die Gegenwart, um Klarheit und Antworten in der Geschichte zu finden. Von Sigmund Freud lernt sie, was es bedeutet, der Sicherheit beraubt zu werden, seinen eigenen Verstand zu kennen, und zu verstehen, „dass eine Sache willkürlich für eine andere stehen könne, ohne dass wir den Unterschied bemerken würden“. Als Bertha Röntgen das Schattenbild ihrer Handknochen sah, welches die von ihrem Mann entdeckten Strahlen zeichneten, überkam sie ein „Hauch von Grabeskälte“, eine Ahnung ihres eigenen Todes. In Florenz betrachtet die Ich-Erzählerin anatomische Wachsmodelle und stellt sich vor, wie ihr eigenes fleischliches Inneres aussieht. Diese abschweifenden und manchmal depressiven Gedanken der Protagonistin unterbrechen immer wieder die Handlung.

Zugleich ist es möglicherweise sogar vermessen, überhaupt von einer Handlung zu sprechen, denn diese beschränkt sich im überschaubaren Kern auf die Feststellung, dass die Ich-Erzählerin nach der Geburt ihres ersten Kindes wieder schwanger wird und ihr zweites Kind erwartet. Die erzählte Welt besteht aus nachdenklichen Blicken auf das Leben von Sigmund und Anna Freud, Bertha und Konrad Röntgen sowie John Hunter, dem Begründer der experimentellen wissenschaftlichen Chirurgie im 18. Jahrhundert. Es ist die geistige Suche nach dem, was das erweiterte Ich ausmacht.

Ihre Mutter hatte der Ich-Erzählerin einmal erzählt, sie habe aufgehört zu träumen – um hernach im krebskranken Halbschlaf zu gestehen, dass sie doch meist vom Verlassenwerden durch den Vater träumt. Die Gedankenspiele der Ich-Erzählerin kreisen unaufhörlich um die Angst vor der Einsamkeit, die Angst vor den sie möglicherweise überfordernden Herausforderungen als Mutter sowie um die Angst davor, falsche Entscheidungen mit fatalen Folgen zu treffen.

London bildet dabei die dichte, atmosphärische Umgebung, in die sich die Gedankenfäden, die Jessie Greengrass ihre Protagonistin virtuos spannen lässt, einpassen. Zwischen musealer Aura und moderner Hektik verweben sich Erinnerungen, Gelesenes und Gegenwart – ein Vexierspiel. Der ungewöhnliche Erzählstil von Greengrass lädt zugleich zum Weiterdenken und zum Hinterfragen der eigenen Lebensziele ein. Schließlich sei für Freud der wichtigste Patient die eigene Person gewesen.

Die Ich-Erzählerin bezieht den Leser mit ein, wenn sie darüber sinniert, „was wir alle tun, wenn wir uns um Sinnhaftigkeit bemühen“, und resümiert, man könne sich vor den zentralen Fragen des Lebens nicht drücken. Sie könnten nur gut oder schlecht beantwortet werden. Wie schwer die Psyche zu durchdringen ist, verdeutlicht der faszinierende Roman Was wir voneinander wissen auf eine einzigartige Weise. Und es wirkt beruhigend, dass auch Freud von Ängsten umfangen war und die Entzauberung des Körperinneren durch Röntgens Strahlen oder Hunters Seziermesser Irritationen auslöste. Am Ende findet sich bei allen Figuren, die Jessie Greengrass auftreten lässt, dieselbe Sehnsucht nach dem Wundersamen sowie die Erkenntnis, dass Leben Möglichkeit ist – und Menschen nach dem Tod in unseren Erinnerungen erhalten bleiben.

 

Titelbild

Jessie Greengrass: Was wir voneinander wissen. Roman.
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
224 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051728

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