Lyrik aus dem Pütt

Posthume Veröffentlichung der Ergebnisse der jahrelangen Beschäftigung Walter Köppings mit der deutschen Bergbaukultur

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Köpping, der selbst von 1947 bis 1953 als Bergmann auf der Zeche „Julia“ bei Herne tätig war und somit den Alltag und die Probleme der Bergarbeiter aus erster Hand kannte, gilt als einer der bedeutendsten Experten für Bergbaukultur und Bergarbeiterdichtung in Deutschland. Darüber hinaus trat er von 1964 bis 1983 im Amt des Leiters der Bildungsabteilung des IG Bergbau auch als engagierter Förderer und Vermittler der Bergbaudichtung und -literatur in Erscheinung. Das in diesem Jahr veröffentlichte Buch Wir fürchten nicht die Tiefe, das einen Überblick über Kunst und Kultur im deutschen Bergbau liefert, basiert auf den in langjähriger Arbeit zusammengetragenen Forschungen des Autors zu diesem Thema und sollte ursprünglich bereits 1994 veröffentlicht werden. Allerdings verstarb Köpping 1995, bevor seine Monographie publiziert werden konnte. Das Typoskript wurde nun redaktionell überarbeitet und konnte auf diese Weise 25 Jahre nach dem Tod des Autors einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Über seine ersten Kontakte mit dem Bergbau und der Bergarbeiterdichtung schrieb Köpping: „Das Ruhrgebiet, die Großstadt, der Pütt, die körperliche Arbeit – das war eine fremde und gefährliche Welt für mich. Als ich diese Bergmannsgedichte las, verstand ich diese Welt besser, konnte ich mich stärker in sie hineinfühlen, mich in ihr zurechtfinden.“ Genau dieses Ziel verfolgt auch das vorliegende Werk, indem es den Leser in die fremde, dunkle und gefährliche Welt unter Tage einführt und dabei hilft, die Bergleute, ihre Probleme, Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte besser verstehen zu können.

Die Tätigkeit des Bergmanns gehört zu den Urberufen der Menschheit. Bereits seit der Steinzeit wurde von den Menschen – vorerst noch übertägig – Feuerstein und Salz abgebaut. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit waren vor allem die Bergleute aus dem Harz, Erzgebirge, Siegerland und der Alpenregion gefragte Spezialisten, die durch den Abbau von Edelmetallen zum Reichtum ihres Landesherrn und ihrer Region in erheblichem Maße beitrugen. Dies führte zu zahlreichen Neuansiedlungen in Gebieten, in denen Metalle gefunden wurden. Durch die Vergabe von Privilegien, den sogenannten Bergfreiheiten, wurden immer mehr Menschen in die Bergstädte gelockt, die sich seit dem 16. Jahrhundert zu einem Nährboden für bergmännische Künste und Wissenschaften entwickelten. In den frühen Liedern, Sprüchen und Gedichten, die überwiegend mündlich weitergegeben wurden, spiegelt sich neben der tief verwurzelten Religiosität, der harten und gefährlichen Arbeiten sowie vereinzelter Kritik an der Obrigkeit vor allem der große Berufsstolz und das Standesbewusstsein dieser Gruppe. Ein Beispiel dafür ist das Bergmannslied Ich bin ein Bergmann wohlgemut aus dem Jahr 1626, in welchem die Freude an der Arbeit, die Hoffnung auf reiche Ausbeute und der Glaube an göttlichen Schutz der Bergleute beschrieben wird. Durch die für Außenstehende teilweise absonderlich wirkende Bergmannssprache, die sich auch in den Gedichten und Liedern wiederfindet, grenzten sich die Bergleute von anderen Bevölkerungsschichten ab. Diese Abgrenzung nach außen verstärkte die Einheit und den Zusammenhalt nach innen, der auch einen Niederschlag in der bergmännischen Kultur in Form von Bergmannsfesten, -trachten und anderen -traditionen fand. Auch der Bergmannsgruß „Glück auf!“ ist ein Beispiel für diese Abgrenzung, da nur die im Revier lebenden Personen sich auf diese Weise grüßten und ein Fremder so schnell ausgemacht werden konnte.

Auch in der Literatur der Frühen Neuzeit wird das Bergbauthema von den Autoren gerne aufgegriffen. Köpping unterscheidet dabei drei verschiedene Schriftstellergruppen: 1. Bergmannsschriftsteller, die selbst unter Tage gearbeitet haben und somit ihre eigenen Erfahrungen in ihre Werke einbringen konnten (z.B. Paul Zech); 2. Schriftsteller, die den Bergbau von außen betrachtet und beschrieben haben (z.B. Clemens Brentano, Achim von Arnim oder E. T. A. Hoffmann); 3. schreibende Bergarbeiter, die keine Schriftstellerkarriere gemacht haben und in ihren Texten die Arbeitsbedingungen und Lebensumstände der Arbeiter und Familien schilderten. Somit handelt es sich bei den vorgestellten Texten vielfach nicht nur um literarische, sondern gleichzeitig auch um historische Dokumente. Auch Johann Wolfgang von Goethe war sehr eng mit dem Bergbau verbunden. 1777 bereiste er den Harz und besichtigte dort u. a. den Tiefen Georg-Stollen. Darüber hinaus betätigte er sich – wenn auch nicht sehr erfolgreich – als Gewerke im Ilmenauer Bergbau. Die dabei gemachten bergmännischen Erfahrungen ließ Goethe in sein Werk einfließen. Bergbauanleihen finden sich etwa in Wilhelm Meisters Lehrjahre, Dichtung und Wahrheit oder Faust II.

Im 19. Jahrhundert kam es laut Köpping schließlich zu einem Bruch in der literarischen Bergmannstradition. Die Texte in dieser Zeit stehen in einem scharfen Kontrast zur romantischen, idealisierenden Bergmannsdichtung der vorherigen Jahrhunderte. Dies hatte vor allem mit dem gravierenden Wandel der Arbeitsverhältnisse der Bergleute aufgrund der industriellen Revolution zu tun. In diesem Abschnitt widmet sich der Autor überwiegend dem Kohlebergbau im Ruhrgebiet, bei dem die Veränderungen am deutlichsten sichtbar wurden. Aus den einstmals freien, privilegierten und geachteten Bergleuten wurden nun gewöhnliche Lohnarbeiter, die in vollkommener Abhängigkeit zu den Großunternehmern standen. Längere Schichten, weniger Lohn, vermehrte Grubenunfälle und gesundheitliche Schäden prägten nun den Alltag der Bergarbeiter. Während im Jahr 1859 bei Grubenunglücken im Ruhrgebiet 69 Menschen ums Leben gekommen waren, waren es 1898 – nicht einmal 50 Jahre später – bereits 636 Tote im Jahr. Es kam mehr und mehr zu einer Klassenbildung im Bergbau, bei dem sich Arbeiter, Beamte und Unternehmer gegenüberstanden. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in der Frühen Neuzeit gab es nun kein einheitliches „Bergvolk“ mehr, wodurch sich auch die Bergbautraditionen, die im Harz oder im Erzgebirge in einem großen Maße zur Bergbaukultur beigetragen hatten, im Ruhrgebiet nicht durchsetzen konnten.

Diese geänderten Verhältnisse schlugen sich in den Texten nieder, die von den Bergleuten geschrieben oder rezipiert wurden. Die Lieder aus den Vorzeiten hatten nichts mehr mit der industriellen, bergmännischen Lebenswirklichkeit im Ruhrgebiet zu tun. Besonders prägnant schilderte dies Heinrich Kämpchen in seinen Liedern und Gedichten, der den sozialen Absturz der Bergleute am eigenen Leib in der Zeche „Hasenwinkel“ in Bochum-Linsen miterlebt hatte. Diesem Bergbaudichter, auf den der Text des Internationalen Knappenliedes zurückgeht, widmet sich Köpping ausführlich und stellt dessen politische und gewerkschaftliche Aktivitäten im Kampf um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Kohlebergbau dar. Während Autoren wie Goethe von oben auf den Bergarbeiter geschaut und über diesen geschrieben hatten, war Heinrich Kämpchen selbst ein Betroffener und so gelang es ihm, die Zustände im Ruhrgebiet des 19. Jahrhunderts realistisch und anschaulich darzustellen. Laut Köpping sei Kämpchen da am stärksten, wo er seine eigenen Erfahrungen verarbeite. Ein besonders eindrückliches Gedicht von Kämpchen, in dem die Arbeitsverhältnisse nach der industriellen Revolution beschrieben werden, ist Ein Bild:

Schwarz von Kohlendampf die Luft,
Überall Gepoch und Hämmern,
Jede Grube eine Gruft,
Um das Leben zu verdämmern.

Zwischendurch der Hütten Dunst
Und die Glut von tausend Essen,
Eine Riesenfeuersbrunst,
Nicht zu malen, nicht zu messen. 

Graue Halden, dürr und kahl,
Schlote, die zum Himmel ragen.
Menschenleiber, welk und fahl,
Die sich hasten, die sich plagen. 

Sprecht vom Kohlengräberstand
Oft mit klügelnder Gebärde –
Das ist Kohlengräberland!
Das ist uns’re Heimaterde. 

Auf den sehr anschaulichen und lebendigen, aber von der Stimmung eher düsteren Gedichten von Kämpchen baut die realistische und sozialkritische Bergmannsdichtung des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Köpping schildert in seinem Buch auch den Bergbau im Ruhrgebiet während des 1. und 2. Weltkriegs sowie den Prozess der Mechanisierung des Kohlebergbaus, bis hin zu den Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse in den 1960er Jahren. In diese Zeit fiel auch die Gründung der „Dortmunder Gruppe 61“, mit der ein neues Kapitel in der Bergmannsdichtung des Ruhrgebietes aufgeschlagen wurde. Diese Gruppe, zu deren Gründungsmitgliedern Walter Köpping gehörte, setzte es sich zum Ziel, die schriftstellerische und künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt und den sozialen Konflikten des Bergbaus zu fördern. In diesen Kontext der Förderung von Kultur im Ruhrgebiet fallen auch die seit 1946 jährlich stattfindenden Ruhrfestspiele, die heute zu den ältesten und renommiertesten Theaterfestivals in Europa zählen.

Einen erheblichen Einschnitt in die Bergbaukultur des Ruhrgebietes stellten die nach der Kohlekrise Ende der 1950er Jahre zunehmenden Stilllegungen der Zechen dar. Diese rentierten sich aufgrund der steigenden Abbautiefen und der Ablösung der Kohle durch das Erdöl als Primärenergieträger häufig nicht mehr. Es wurden zahlreiche Reportagen, Erzählungen, Gedichte und Lieder zum Thema Stilllegungen verfasst, die verdeutlichen, wie stark der Kohlebergbau die Kultur in der Region über eine lange Zeit geprägt hatte und dass dieser für die Menschen im Ruhrgebiet weit mehr geworden war als nur ein Arbeitgeber.

Köpping weist darauf hin, dass sich neben den Bergarbeitern teilweise auch deren Frauen schriftstellerisch betätigten. Häufig schrieben diese über ihren Lebensalltag und ihre Erlebnisse im Revier und in den Arbeitersiedlungen. Einige Frauen waren aber auch selbst im Bergbau tätig wie etwa die Heimatschriftstellerin Maria Homscheid, die in ihrer Jugend als Haldenmädchen gearbeitet hatte. Im Vergleich zu vielen der männlichen Bergbauschriftsteller und -dichter verfolgten die Frauen jedoch meist kein hehres politisches Ziel, sondern versuchten in ihren Texten, das zum Ausdruck zu bringen, was die Menschen im Revier außerhalb ihrer Arbeit bewegte. Bei diesen Texten wurde laut Köpping der Kontrast zwischen der harten Arbeit in den Gruben und dem idyllischen Leben in der Bergarbeitersiedlung mit kleinem Garten und Kaninchenstall besonders deutlich. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht Im Revier von Josefine Konietzko, in dem das Zusammenleben und die Koloniekultur in den Bergarbeitersiedlungen thematisiert werden. Auch nach den Schließungen der Zechen wurde versucht, die Bergarbeitersiedlungen als Kulturgüter und Denkmäler der „sozialen Architektur“ weiter zu erhalten.

Walter Köpping legt seinen Forschungen zur Kunst und Kultur der Bergleute in Deutschland einen sehr breiten Kulturbegriff zugrunde. Für ihn ist Kultur nicht nur gleichzusetzen mit Literatur, Kunst, Religion und Wissenschaft, sondern fängt bei der Arbeit der Menschen und der Verschmelzung mit ihrem alltäglichen Leben an. Somit können laut dem Autor auch die Bereiche Technik, Arbeitsbedingungen, Verteilung der Einkommen, Wohnung, Freizeit und Sozialleben mit zur Kultur einer Region oder einer Berufsgruppe gezählt werden. Aus diesem Grund sind die Texte im vorliegenden Buch sehr vielfältig und umfassen alle der genannten Bereiche. Neben zahlreichen Liedern und Gedichten sowie Ausschnitten aus literarischen Werken zieht Köpping auch historische Textbeispiele wie Erlebnisberichte ehemaliger Bergarbeiter oder andere Egodokumente heran, die dazu beitragen, ein authentisches und vielschichtiges Bild der Verhältnisse im deutschen Bergbau zu verschiedenen Zeiten zu vermitteln. Besonders eindrücklich sind die abgedruckten zeitgenössischen Erinnerungen der Bergleute, in denen diese die harte Arbeit und ihren Umgang mit der Einsamkeit, Enge und Dunkelheit unter Tage beschreiben.

Im zweiten Teil des Buches liegt der Fokus leider sehr stark auf dem Kohlebergbau im Ruhrgebiet. Hier wäre es interessant gewesen, mehr über die weiteren Entwicklungen in den Erzbergbaugebieten im Harz oder dem Erzgebirge zu erfahren, die im ersten Teil des Buches häufig als Beispiele herangezogen werden. Dies liegt vermutlich am Forschungsschwerpunkt des Autors, der zeit seines Lebens im Ruhrgebiet zu Hause war. An einigen Stellen hat das Buch durch die bloße Aneinanderreihung der Textbeispiele stärker den Charakter einer Anthologie als einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema. Ab und zu wäre eine weitere erläuternde Passage zu den Beispielen hilfreich gewesen. Allerdings haben die Herausgeber bewusst darauf verzichtet, Ergänzungen am Text vorzunehmen, da der ursprüngliche Charakter von Köppings Manuskript erhalten bleiben sollte. Die Kapitel des Buches sind angenehm kurz gehalten und können auch gut quer gelesen werden, da sie zwar einer gewissen Chronologie, aber keinem kohärenten inneren Zusammenhang folgen.

Wir fürchten nicht die Tiefe ist für jeden, der sich mit dem Bergbau im Ruhrgebiet beschäftigen möchte, ein gutes Einstiegsbuch, das den Bergbau durch literarische Beispiele sehr anschaulich und bildhaft näher bringt. Für Leser, die sich noch nie mit dem Thema Bergbau beschäftigt haben, hilft darüber hinaus ein angehängtes Glossar beim Verständnis der teilweise sehr speziellen Bergmannssprache. Das Ende des Buches ist leider etwas abrupt. An dieser Stelle wäre ein letztes, zusammenfassendes Kapitel – gegebenenfalls auch von den Herausgerbern –, das die einzelnen Stränge der Bergbaukultur in Deutschland zusammenführt, schön gewesen. In jedem Fall ist es für alle Bergbauinteressierten und -forschenden eine große Bereicherung, dass das Manuskript nun 25 Jahre nach dem Tod Walter Köppings veröffentlicht werden konnte und somit das Lebenswerk des Autors seine verdiente Publikation erhält.

Titelbild

Walter Köpping: Wir fürchten nicht die Tiefe. Kunst und Kultur der Bergleute in Deutschland.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2020.
288 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783849815516

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