Abschiednehmen zwischen Wut und Zärtlichkeit

Michael Kumpfmüller entwirft in „Ach, Virginia“ ein sensibles Porträt der letzten Tage von Virginia Woolf

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

28. März 1941, Sussex Downs, England. Der Tag und Ort, an dem die knapp 60-jährige britische Schriftstellerin Virginia Woolf ihr Cottage Monk House zum letzten Mal verlässt. Sie ist auf dem Weg zum nahegelegenen Fluss Ouse, an dessen Ufer sie ihre Manteltaschen mit Steinen füllt, um sich in seinen Fluten das Leben zu nehmen. Ihren Leichnam findet man erst Wochen später, und die Urne mit ihren sterblichen Überresten wird ihr Ehemann Leonard Woolf schließlich im Garten des gemeinsam bewohnten Cottages zur letzten Ruhe betten.

Dieses tragische Ende einer der größten Autorinnen des 20. Jahrhunderts kommt in einer Phase tiefster Hoffnungslosigkeit, die Woolf den Entschluss fassen lassen, einen wortwörtlich fatalen Schlussstrich zu ziehen. Wissenschaftlich betrachtet sind die äußeren wie auch inneren Umstände ihrer letzten Tage – verblassender Ruhm, die Wirren des Zweiten Weltkrieges, denen auch ihr Londoner Zuhause zum Opfer fällt, ein schwerer depressiver Schub, der sie praktisch arbeitsunfähig macht – heute mehr oder weniger profund erschlossenes Terrain. Literarisch betrachtet besteht indes bis heute ein Rest an imaginativem Freiraum und in ebendiesem Umfeld platziert sich Michael Kumpfmüllers Roman Ach, Virginia – gekonnt, facettenreich und äußerst sensibel auslotend, wie und warum die berühmte Autorin am Ende ihre Entscheidung gegen das Leben getroffen hat.

Dabei lässt er seine Protagonistin selbst die Geschichte ihrer letzten Tage in den Sussex Downs erzählen, mit schonungslosem, messerscharfem Blick in emphatischem wie widerspenstigem Ton. Oszillierend zwischen Wut und Zärtlichkeit stellt sich Woolf ein letztes Mal den Geistern ihrer Vergangenheit und bringt alle Menschen und Stationen noch einmal zur Sprache, die ihren Lebensweg zum Guten oder zum Schlechten beeinflusst haben. Kritisch und melancholisch zugleich zieht sie Bilanz über persönliche und berufliche Höhe- und Tiefpunkte, ihren schriftstellerischen Ruhm und das schmerzlich vermisste, glanzvolle Leben in London, ihre komplizierte Ehe mit Leonard, ihre Freund- und Liebschaften, wie jene mit Vita Sackville-West, das Verhältnis zu ihrer Familie, vor allem zu ihrer Schwester Vanessa, genannt Nessa, und natürlich ihren Krankengeschichte, namentlich ihre prekäre geistige Gesundheit, die seit ihrer Jugend eine Konstante in ihrem Leben ist und sich nun zunehmend verschlechtert. Inmitten dieser emotionalen Verdüsterung, beherrscht von Totengedenken und Todesgedanken, fällt dann auch Woolfs Entscheidung zum Suizid, die Kumpfmüller nuanciert als verständliche, aber keineswegs unausweichliche Konsequenz ihrer Verfassung nachzeichnet.

Ebendiese Vielschichtigkeit und Sensibilität in der Annäherung an das Denken und Fühlen der komplexen Frau und Schriftstellerin Woolf sind dann auch das Erfolgsgeheimnis von Ach, Virginia. So gelingt der schwierige Spagat zwischen bekannten biografischen Fakten und dem angesprochenen literarischen Freiraum. Zumindest für die Dauer der Lektüre und in schlaglichtartiger Form wird damit das tiefe Dunkel, in dem Virginia Woolf am Ende ihres Lebens tragischerweise versunken ist, einleuchtend nachvollziehbar.

 

Titelbild

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049213

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