Eine Welt voller Dinge, die ständig eine Bedeutung ablegen und eine neue annehmen

„Pop on Paper“ – Bilder einer Massenkultur, präsentiert vom Berliner Kupferstichkabinett

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich haben sie nie eine Gruppe gebildet, die Protagonisten der amerikanischen Pop Art vom Ende 1950er bis weit in die 1960er Jahre – so Jasper Johns, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg, Robert Rauschenberg, James Rosenquist, Andy Warhol, Tom Wesselmann u.a. Es waren findige Kunstkritiker und Galeristen, die Parallelen in ihren Arbeiten entdeckten; sie stellten sie zusammen aus und besprachen ihre Werke gemeinsam. Und tatsächlich wiesen die äußeren Umstände auf so etwas wie eine Stilrichtung hin: die meisten der Künstler lebten in New York, sie teilten die Liebe zur Großstadt und den wenig bewohnten, ja verlassenen Vierteln wie Soho, wo sie für wenig Geld große Atelierräume, die so genannten Lofts, anmieteten. Ihr Geld verdienten sie mit Werbeaufträgen, Plakatmalerei und Schaufensterdekorationen. Und bald stellte sich heraus, dass Pop Art nicht nur auch andernorts entstand, sondern schon in England aus der Taufe gehoben wurde.

Warum sollte ein Kunstwerk nicht aus einem Eintauchen in den riesigen Müllhaufen entstehen, den die Großstadt jeden Tag ausspeit? Für die Pop-Artisten war Abfall das, was der Flohmarkt für die Surrealisten gewesen war. Bei vielen vereinten sich Klischee und (Selbst-)Parodie mit blendenden Einfällen und Momenten poetischer Hellsichtigkeit. Von der naturalistischen Wirklichkeit im Sinne der Fototreue bis zur Verfremdung und Projektion des Abgründigen reichte die Skala der Wirklichkeitsbezüge in dieser neuen figurativen Kunst.

Reklame, kurzlebig, manipulierend, die Welt des Kommerziellen verkörpernd, mit der Künstler bisher nichts zu tun haben wollten, stand auf einmal im Mittelpunkt des Interesses. Pop Art entwickelte sich analog zu dem, was die Menschen damals bewunderten, Werbung und Medien, durch die Werbung verbreitet wurde. Pop Art gab sich so, als wäre sie der distanzierte, amüsierte, nachsichtige, aber immer ironische Zuschauer im großen Theater der Begierden und Illusionen, das die Massenmedien des 20. Jahrhunderts geschaffen hatten.

Das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin besitzt eine der exzellentesten Pop-Art-Sammlungen und deren kostbarsten Blätter, bereichert durch Plakate aus der Kunstbibliothek, zwei Kleidern aus Papiervlies im Warhool-Look aus der Sammlung des Kunstgewerbemuseums sowie Leihgaben aus Privat- und Museumsbesitz, werden – unterbrochen durch die Corona-Phase – noch bis 16. August gezeigt. Andreas Schalhorn, Kurator am Kupferstichkabinett, hat ein überzeugendes Konzept entwickelt, das Pop on Paper in seiner stilistischen Vielfalt, seinem thematischen Facettenreichtum – bis in seine minimalistischen Tendenzen hinein –, seinen weiterreichenden Wirkungen zeigt.

In der die Ausstellung flankierenden Publikation, die den Charakter eines herkömmlichen Kataloges bei weitem übertrifft, beschreibt er den Weg von Pop Art in die populäre Konsumkultur. Der große Boom der Grafik war mit der Etablierung der US-amerikanischen Pop Art einhergegangen. Pop on Paper vermittelte die wesentlichen Themen und Bildsprachen der Pop Art – und gerade im Medium des Siebdrucks ist Pop Art populär geworden. Besondere Aufmerksamkeit wird der westdeutschen Entwicklung von Pop Art geschenkt, die ostdeutsche Existenz von Pop Art bei Hans Ticha, der seine Variante ‚Agit-Pop‘ nannte, Wasja Götze, Willy Wolff – zu ihnen kämen noch Ruth Wolf-Rehfeldt und Robert Rehfeldt hinzu – wird nur erwähnt.

Alexander Dückers, seit 1969 am Kupferstichkabinett, von 1984 bis 2002 dessen Direktor, erläutert den Aufbau der Berliner Pop-Art-Sammlung unter seiner Ägide. Eine USA-Reise im Herbst 1969 hatte deren Grundstein gelegt, weil Dückers „für die schnörkellose Klarheit ihrer formalen Gefüge, die Direktheit ihrer Botschaften und […] ihren großen Atem, der die Weite und Größe des Landes zu spiegeln schien“, sofort Sympathie empfand. Nicht Vollständigkeit, sondern die Erwerbung von herausragenden oder exemplarischen Werken stand auf dem Programm. Die Werke der Amerikaner – nicht nur die reinen Pop-Art-Künstler, auch die Mittler zwischen ihnen und dem Abstrakten Expressionismus (wie Jasper Johns und Robert Rauschenberg) sollten präsent sein – wurden verstärkt durch die der britischen Pop Art (Eduardo Paolozzi, R. B. Kitaj) und Editionen von westdeutschen Protagonisten des Kapitalistischen Realismus wie K.P. Brehmer und Sigmar Polke. Auch der neue Realismus kam hinzu, die Minimal Art und weitere Spielarten der Gegenstandslosigkeit. Ab 1986 gelangten auch Blätter der Moderne aus der Neuen Nationalgalerie ins KK. Durch Veräußerung von Dubletten, so Max Beckmanns Litho-Zyklus Die Hölle von 1919, konnte ein bedeutsames Konvolut Claes Oldenburgs aus den Jahren der sich gerade formierenden Pop Art erworben werden. Oldenburgs Blätter schlossen sich in der Sammlung den über 100 hauptsächlich farbigen Arbeiten Warhols an, die der Sammler Erich Marx 1996 als Dauerleihgabe überließ.

Mit Warhols Siebdruckporträts beschäftigt sich Patricia Kühn, Freya Nagelsmann lenkt den Blick auf die 1966 in den USA aufkommenden Paper Dresses, mit den Gesichtern bekannter Filmstars oder mit Warhols „Campbell‘s Soup Cans“ bedruckten Kleidern – das Kleid wird damit zur Leinwand oder zur wandelnden Werbefläche. Pop im Plakat beschreibt Christina Thomson am Beispiel Roy Lichtensteins, der gemeinsam mit seinem New Yorker Galeristen Leo Castelli Motive aus seinem Werk in Form von Plakaten reproduzierte, die die Galerieausstellungen ankündigten und auch als Einladung zur Vernissage verschickt wurden. Lichtenstein hat dann auch weiter mit architektonischen Elementen sowie Siebdrucken auf Folie oder Rowlux und metallischen Effekten experimentiert. Die ästhetischen und herstellungstechnischen Besonderheiten des Siebdrucks, die die Pop Art Künstler so herausforderten, erklärt Fabienne Meyer. Wie deren Arbeiten keine persönliche Handschrift zeigen sollten, wählten sie auch „eigenschaftslose“ Papiere als Bildträger, die den leuchtenden Farben des Siebdrucks einen neutralen Untergrund boten.

Überwältigend die Bilderfülle, ihre funkelnde berstende Leuchtkraft, in der sich das ganze Spektrum von Pop on Paper in zehn knapp kommentierten Abteilungen entfaltet. Vergleiche zwischen den Künstlern können angestellt, stilistische und thematische Wandlungen wahrgenommen, drucktechnische Veränderungen und Perfektionierungen beobachtet werden. Unter Vorstufen der Pop Art werden Paolozzi, Hamilton, Rauschenberg und Jasper Johns zusammengeführt. Paolozzis Bunk!-Collagen gehören zu den ersten Werken der britischen Pop Art. Er kreierte sie aus farbenfrohen amerikanischen Zeitschriften, Comics, Tageszeitungen und Werbeanzeigen. Richard Hamilton, der Pop Art erfand – in einer prophetischen Collage aus dem Jahr 1950 hält ein Muskelprotz einen phallischen Riesenlutscher mit der Aufschrift „Pop“ in der Hand, hier sind auch schon die wichtigsten Quellen der Bilderwelt der späteren Pop Art versammelt – hat seine Collagen vollgestopft mit Details und Motiven. Das aktualisierte, naturalistische Fotobild, das in Rauschenbergs Collagen halluzinativ auftaucht, wird von aktionsgeladenen Linien und Linienbündeln hervorgehoben oder ausgelöscht, so als ob diese Action-Elemente Bewusstseinsschwingungen wiedergeben würden. In radikaler Art konzentrierte sich Jasper Jones auf das Thema „Flag“, die US-amerikanische Nationalflagge, die er in ihren abstrakten Formen zeigt, sie also ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entkleidet. Wir sehen eine perfekte, mit mechanischer Präzision gezeichnete „Haut“, und die verstreuten Elemente der Fahne darunter, das Zeichen hat seine Befehlsgewalt verloren.  

Was Warhol, der als Werbegrafiker begann und so auch endete, denn er hat seine letzten 10 Jahre mit Gesellschaftsportraits ausgefüllt, der Massenkultur abgewann, war die Wiederholung. Er liebte die eigentümlich gesichtslose Gleichheit der Massenprodukte: eine unendliche Reihe von identischen Gegenständen – Suppendosen, Colaflaschen, Dollarnoten, Mona Lisas oder immer wieder der gleiche Kopf von Marilyn Monroe als Siebdruck. Gleichheit im Überfluss, das ist Warhols Thema, so seine 200 Campbell-Suppendosen (1962). Seine Arbeiten der 1960er Jahre waren ein boshaftes Nachäffen der Werbung. Was ihn zum „subversiven Element“ machte, das war seine Methode. Er drehte das Verfahren, auf dem eine erfolgreiche Werbung beruhte, einfach um: Er machte sich zum berühmten Künstler, gerade weil er nichts als Banalität und Gleichheit pries. Indem er Idolfiguren (wie Marilyn Monroe) gerade durch die leuchtreklameartig wechselnde Farbigkeit von Bild zu Bild „entmythologisierte“ und auf den Werbeeffekt reduzierte, zeigte er einen Nerv für die Krisenzeit einer Gesellschaft.

James Rosenquists vierteilige Lithografie F-111 (1974) resümiert seine Vision von Amerika als einem sich selbst zerstörenden Garten Eden, der auf übertriebenem Konsum von Bildern und Dingen aufbaut. Der Titel ist der Name eines Kampfflugzeuges, das die Vereinigten Staaten gegen Nordvietnamesen einsetzten. Sein Rumpf zieht sich durch die ganze Länge dieser riesigen Bildmontage und ist durchsetzt von Sinnbildern des Wohlstandes im schlichtesten Reklamestil. Der Gedanke, dass ein Bild unter Überdruck steht und als Entladung von Bildern dienen kann, war Rosenquists spezieller und gewichtiger Beitrag zur Pop-Kunst.

Roy Lichtensteins frühe Comicstrip-Bilder, meist mit Sprechblasen, sehen aus wie maschinell gedruckt, wirken emotionslos, machen aber zugleich die banalen zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar. Dann suchte er in einer grobkörnigen Rasterung, durch das Wählen von Ausschnitten, durch den Einsatz von kräftigen, klaren Farben, durch Vergrößerungen und Vereinfachungen der Objekte deren Wirkungsmechanismen aufzuzeigen. Die stereotypen, konventionellen und inhaltsleeren Gefühle der Gesellschaft wurden von ihm reflektiert.

Unter dem Titel Sex, Konsum und Fashion rangieren Mel Ramos, Tom Wesselmann, Allen Jones. Die Pin-up-Girls von Mel Ramos ähneln Arrangements aus der Werbung, die Produkte über die Darstellung aufreizender weiblicher Sexualität verkaufen sollen. Damit wird die triviale Glamourgestik einer Werbemasche parodiert, die die Kauflust mit sexuellen Reizen schürt. Diese „Commercial Pin-Ups“ sollten über Jahrzehnte das Markenzeichen von Mel Ramos bleiben. Auch Tom Wesselmanns stilisierte weibliche Akte waren von der Bildsprache amerikanischer Werbung inspiriert, sie zeichneten sich durch matte, gleichwohl kräftige Farben aus. Allan Jones parodierte in den Posen langbeiniger Bunnies und dem Blitzlicht der Fotografen die Traumvorstellungen junger Mädchen aus der Provinz. Er mischte verschiedene Bildebenen so vollkommen, dass aus der Pop-Art-Parodie eine ironische Haltung zum Sex-Konsum überhaupt resultiert.

Ein Künstler, der die die ganze Flut der amerikanischen Banalität – ihren Gigantismus und ihre verführerische Macht – mit Ironie verarbeiten konnte, das ist Claes Oldenburg. Mehr als jeder andere formt er die Welt um; es scheint keinen Bereich menschlicher Begierden zu geben, den die Sinnbilder seiner Kunst nicht mittels seiner großen Skala von Technik und Vokabular erreichen können. Seine Arbeiten deuten auf eine durchlässige Welt hin, eine Welt voller Dinge, die ständig eine Bedeutung ablegen und eine neue annehmen. Sie verändern sich laufend in Material, Umfang, Stofflichkeit und Struktur. Die meisten seiner Projekte und Pläne wurden nicht umgesetzt. Es gibt sie nur als Zeichnungen, leicht und elegant hingeworfen.

Abstraktion in der Pop Art: Die Bildwelt von Robert Indiana erscheint eher logisch, sie konzentriert sich auf das einzige, was echten Mitteilungswert einschließt: Zahl und Buchstabe. Amerikas urbane Lebenswelt hat Ed Ruscha in ihrer ganzen banalen Schönheit dokumentiert. Konsequent zieht sich das Motiv der Tankstelle durch sein ganzes Fotobuch, vereint Pop Art und Konzeptkunst.

Mit dem Kapitel Subjektive Brechungen der Pop Art in Deutschland und Europa endet die hintergründige Bilderschau. K. P. Brehmer schuf Aufsteller und Trivialgrafiken, in denen die Degradierung der Frau zum Werbeobjekt gezeigt wird (Das Gefühl zwischen Fingerkuppen, 1967). Körpergefühle wie Schmerz oder Lust werden von Maria Lassnig in fast abstrakt anmutenden Porträts ausgedrückt. Nach Reproduktionen billiger Unterhaltungskultur schuf Sigmar Polke Rasterbilder, denen ein vergröberndes und nivellierendes Raster unterlegt wurde. Nur unmerklich unterscheiden die pophaft wirkenden Phänomene und Rituale der in Paris entstandenen Siebdrucke der Filmemacherin Ulrike Ottinger zwischen Wirklichkeit und Inszenierung. Antje Dorn wiederum präsentiert Dinge aus der Warenwelt mit den Bild- und Schriftsystemen des öffentlichen Raumes in Gestalt realer und fiktiver Piktogramme. Und wer ist SUSI POP? Ein künstlerisches LabeI, mit dem eine Reihe KünstlerInnen seit längerem arbeiten. Sie experimentieren mit Medienbildern, reproduzieren und entfremden diese und setzen sie in neue Bedeutungszusammenhänge. Markenzeichen ist hier die pinkfarbene Maske, die dem reproduzierten Vorbild übergestreift wird.

Ein Bild muss nicht mehr flach sein, auch nicht mehr ein Fenster, sondern eine Welt, eine Bühne, wo man agieren kann. Pop Art hat nicht nur die reale Welt mit einbezogen, sondern auch das Ausgeliefertsein an diese Welt aufgezeigt. Ihre verbindende Gemeinsamkeit: dass sie funktionell gemeinte Dinge ihrer Funktion entgegengesetzt anwendet, den realen Zweck durch eine Bewusstseinsfunktion ersetzt.

Titelbild

Andreas Schalhorn: Pop on Paper. Von Warhol bis Lichtenstein.
Kerber Verlag, Bielefeld 2020.
180 Seiten ,
ISBN-13: 9783735606839

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch