Kontrolle über den eigenen Tod

In Gesina Stärz‘ Roman „vielleicht leicht“ sucht eine Schwerkranke nach einem Weg, selbstbestimmt zu sterben

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wunsch, die Kontrolle nicht nur über das eigene Leben, sondern auch über den eigenen Tod zu erlangen, gehört zum aufgeklärten Menschen, spätestens seit Goethes Werther ihn feierte als „das süße Gefühl der Freiheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will“. Kürzlich beschäftigte das Thema sogar das Bundesverfassungsgericht, anlässlich der Frage, ob und inwieweit einem Sterbewilligen bei der Durchführung seines Vorhabens geholfen werden darf.

Jetzt hat die Autorin Gesina Stärz genau diesem Thema einen Roman gewidmet: In ihrem Buch geht es um eine schwerkranke Frau, die sich nach langem Ringen entscheidet zu sterben, dies aber nicht mehr selbst durchführen kann – und wie sie es schafft, Hilfe zu bekommen und ihren Wunsch am Ende doch umzusetzen.

Schon in zwei früheren Romanen hat Stärz sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen weiblicher Selbstbestimmung und gewaltsamem Tod beschäftigt – in vielleicht leicht verknüpft sie dieses persönliche Interesse mit eigenen beruflichen Erfahrungen: Stärz arbeitet in einem Pflegeheim für Multiple-Sklerose-Patienten. Sie weiß, wovon sie redet, wenn sie über Krankheit und Sterben schreibt. Und dieses Wissen macht auch die Qualität ihres Romans aus.

Eigentlich ist es eine sehr einfache Geschichte: Eine aktive Frau mittleren Alters, Rechtsanwältin, findet sich nach einem Verkehrsunfall in einer völlig veränderten Lebenssituation wieder. Sie muss fortan mit schwerster Behinderung in einem Pflegeheim wohnen. Nach langem Hadern entschließt sie sich zu sterben und setzt dies auch gegen das anfängliche Widerstreben der sie Pflegenden durch. Erzählt wird aus der Perspektive diverser Beteiligter: Pfleger, Betreuerin, Sozialpädagogin, Heimleiterin und natürlich die Protagonistin selber kommentieren das Geschehen abwechselnd aus ihrer Sicht. Dadurch wirkt der Text spröde, sperrig, fast wie eine Dokumentation. Manche Gedanken wiederholen sich (etwa der, dass kein Mensch unabhängig von seiner Umwelt leben kann); manche Figuren (etwa die Betreuerin) bleiben blass, manche erzählerische Wendung erscheint ungelenk.

Dass der Roman dennoch fesselt, liegt an der Genauigkeit, mit der die Autorin die Genese des Todeswunsches herausarbeitet. In wenigen, aber entscheidenden Sätzen zwischendurch erfahren wir, dass dieser nicht allein aus der aktuellen Situation erklärbar ist. Der Keim dazu war schon vorher da. Susan, die Protagonistin, wuchs mit einer alkoholkranken Mutter auf, die ihre Überforderung in Aggressionen gegen die Tochter abreagierte. So lernte Susan schon früh, wie man Kontrollverlust mit Aggression und Verachtung bekämpft. Als Erwachsene reproduziert sie dieses Muster: Ihr häufigster Spruch ist die Bemerkung, dass irgendetwas oder irgendwer überschätzt werde. Über den nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzenden Vater urteilt sie, dass er „im Grunde nicht mehr“ lebe. Und im Gerichtssaal hat sie keine Skrupel, nötigenfalls die Interessen ihres Mandanten zu verraten. Nach ihrem Unfall wendet sie diese Aggressionen auch gegen ihr engstes Umfeld und sich selbst: Sie bricht sofort den Kontakt zu Ehemann und Tochter ab und trennt sich schließlich auch von ihrem eigenen Körper. So rettet Susan ihre intellektuelle Souveränität – zunächst durch die Abwertung anderer, dann durch die Abkehr von denen, die sie liebt, endlich durch den Entschluss zur Vernichtung der eigenen Person, den sie mit eiserner Konsequenz, durch ein mühsames Sterbefasten, in die Tat umsetzt. 

Die Gewaltsamkeit dieses Vorgehens lässt uns Stärz vor allem durch die Figur der Sozialpädagogin Gesa Tore erleben, einer mitfühlenden, eher passiven Person, die zunächst alles Denkbare versucht, um Susan wieder ins aktive Leben zurückzuholen, sich mit der Zeit aber von deren Haltung überzeugen lässt und Susan schließlich bereitwillig in den Tod begleitet.

Durch Gesa Tore gespiegelt erlebt der Leser die Ambivalenz des Geschehens: Mit ihr lernen wir Susans Entschluss als eine souveräne und bewundernswert konsequente zu respektieren, wir erleben aber auch, wie viel Gewalt und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst wie gegen andere in solch einer Entscheidung steckt. Diesen Widerspruch einmal so intensiv erlebbar zu machen, darin liegt die Stärke von Gesina Stärz‘ Roman. Er sei jedem empfohlen, der sich jenseits von juristischen Fragen dafür interessiert, was es bedeuten kann, sterben zu wollen.

Titelbild

Gesina Stärz: Vielleicht leicht. Aufzeichnungen über eine Grenzsituation.
Edition 8, Zürich 2020.
171 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783859903906

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