Die Farben des Augenblicks

Dieter Krause lässt in „Geregelter Schwelbrand“ poetische Momentaufnahmen entstehen

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine eigene Sprache hat der 1961 in Leipzig geborene Dieter Krause längst gefunden. Der studierte Fernmeldetechniker veröffentlichte bisher eine Novelle und drei Gedichtbände. Seine Lyrik ist weder auf großer Bühne platziert noch artifiziell nebensächlich. Nichts schwebt so dahin. Wer spielerische Momente sucht, sucht vergebens. Krauses Lyrik gleitet nicht vorüber, drängt sich aber auch nicht auf. Wer diese Gedichte liest, setzt sich ihnen aus, den Bildern, Gedankenflügen, Assoziationen, die teilweise wuchtig und herb ausfallen, mitunter aber auch sanft und leise nur andeuten – auch wenn manchmal der Schluss wie eine Synthese wirkt, der vielleicht nicht jeder zustimmen möchte.

Mit Körperraum Teer beginnt die alltägliche Beobachtung, die Außeralltägliches mit sich führt. Die Straßenbauer arbeiten. Für Krause sind sie „nah am Sisyphosatem“ und „hacken starr in das Erdreich bis Delphi“. Das Leben wirke oder sei – wer weiß – wie ein „geregelter Schwelbrand“. Der Dichter verlässt die Gluthitze des Asphalts. Er wechselt die Lebensräume und fragt sich, scheinbar plötzlich, nicht versonnen, sondern ernst:

[…] können wir uns nicht Briefe schreiben
diese alte Kunst
verschwiegene Botschaften im Kopf zu halten

Lesend schweifen wir fort, heben den Kopf leicht an, denken nach, träumen vielleicht, aber Krause schenkt dem Traum kein Obdach. Er denkt an den „Herold mit den Flügelsandalen“, den „Überbringer von Nachrichten aus Marathon“, mit Botschaften, die „Geschichten ganzer Werte ändern“ und dem Boten das Leben kosten. Eine gewisse existenzielle Obdachlosigkeit wird sichtbar:

Ich liege und bin nicht steingeschützt
auf der Graserde die jedem Tier gehören kann
vertraue ich dem was man Himmel nennt
Langsam fröstelt Kälte heran.
[…]
ein zittriger AufderHutseinSchlaf
bedeckt mich + beobachtet die Welt
ohne Wunsch nach Ereignis

Das lyrische Ich jammert nicht, klagt nicht, verzagt nicht, ja es ist wunschlos, natürlich nicht glücklich, vielleicht aber auch nicht unglücklich. Die Kälte naht, der Himmel schützt nicht davor. Ein Haus aus Stein könnte eine Herberge sein, aber könnte es die existenzielle Kälte aufheben? Wärme schenken? Die Fragen bleiben, bleiben auch offen. Ein Radfahrer rauscht durch die regennasse Nacht. Ein „feiner Umhang“ sei der Regen, ja eine „riesigediesige Fransenfolie“. Die Brillengläser beschlagen, doch der Radler besingt die „Potentiale der Unstimmigkeiten“, die sich nicht lösen oder auflösen lassen – und eigentlich die Elemente sind, in denen er sich fortbewegt: „Hört mich jemand in der Regennacht?“ Mancher Lesende vielleicht, nur etwas später, schaut, staunt, sieht zu, zumindest von innen her. Möglicherweise gehört zu den heimlichen Gefährten des Dichters der alte Buchhändler, „der in seiner Welt keine Baukräne duldet“, stattdessen aber „manches aus den Gedanken von Erstausgaben“. Ein „leichtes Bedauern in der langsamen Stimme“ klingt mit. Er bewahrt die „gewellten Bücherstapel“ auf, Neuerscheinungen, die erst gefeiert und dann vergessen werden. Draußen in der Welt bewegt sich der Buchhändler in einer „Fastnormalität“ – und „kann sich das Nichtgutaussehen gut leisten“.

Dieter Krauses lyrisches Ich nimmt die digitale Welt wahr und will die Technik nutzen. Aber die Schönheit des Augenblicks und dessen Schattierungen können doch nicht festgehalten und fixiert werden, so wenig wie der Kuss, den die Liebenden sich zum Abschied schenken, wenn sie doch voneinander lassen, einander loslassen müssen:

Der Kuss 

Mit der Leidenschaft des Abschiedes
erreichten sie dass ich doch noch
das Smartphone aus dem Rucksack wühlte 

Ich bekam das Bild aber nicht hin
unter den hellen Verstrebungen des Busterminals
vor der Glastür die Innigkeit
in optische Pixel zu wandeln 

Ein Beweis für die Flüchtigkeit der Liebe
Ein Beweis für ihre Freiheit

Nachdenklichkeit lösen diese Zeilen aus. So wird gesagt, was bekannt ist – die Leidenschaft nicht beschworen, aber berichtet, und doch ist sie so frisch und lebhaft, dass vielleicht niemand, nur der Fotograf des Augenblicks, diesen Moment festhalten will. Aber er kann dies nicht digitalisieren, nicht weil die „Innigkeit“ sich verliert, aber weil Liebe sich nicht fixieren oder perfekt fotografieren lässt. Eigentlich schön, dass es so ist: Der Kuss bleibt dynamisch, rauschhaft, endet, angeschaut, aber nicht aufbewahrt. So bleibt die Atmosphäre des Augenblicks unzerstört und unzerstörbar. Die Verse, mit denen der Dichter uns entlässt, verwundern: Ist damit die „Flüchtigkeit der Liebe“ bewiesen – oder doch nicht nur die Ohnmacht dessen, der sie authentisch bezeugen will? Die Freiheit sei bewiesen, der Liebe wohl, nicht der Liebenden, die einander nicht ganz gehören werden, auch wenn sie sich leidenschaftlich übereignen.

Dieter Krause lässt uns mit seinen Gedichten ganz alleine. Er nimmt uns nicht mit, so wenig wie Liebende sich um den Fotografen kümmern, der sie erblickt hat und fotografieren will, schier überwältigt von der Leidenschaft, die er sieht. Die eine oder der andere mag selbst bei einem Gedicht wie diesem an einen ganz besonderen Kuss denken, an den sich der Dichter gar nicht erinnern kann, weil er, vielleicht niemand sonst, diesen gesehen hat. Aber der Kuss und vielleicht auch das Lächeln zum Abschied sind den Liebenden geblieben, vielleicht nichts sonst. Krause fasst die Leidenschaft des Beobachters zugleich so schön wie traurig – auch wenn er nichts beweisen kann und nichts beweisen muss. Welcher Liebende braucht schon Beweise? Liebende dürfen lieben, sich erinnern, sehnsüchtig sein und bleiben, sich hingeben. Sie dürfen hoffen, auch leise an das Lächeln denken, das noch in der Erinnerung aufscheint, nichts von der Schönheit verliert. Der behutsame Dichter zeigt die Farben der Leidenschaft ganz neu. Dass er zum Schluss etwas beweisen will, sei ihm verziehen. Vielleicht ist auch das nur ein sympathischer Ausdruck von Schwäche. So mag eine jede, ein jeder für sich an einen solchen Kuss denken, vielleicht auch an ein unvergessenes und unvergessliches, schwebendes Lächeln im Vorübergehen.

Ja, Dieter Krauses Lyrik ist sehr eigen, auch eigensinnig, niemals weltentrückt und selbstvergessen. Dieser Poet lässt manchmal Fragen offen, ein anderes Mal antwortet er eindeutig und eindeutig rätselhaft. Niemandem wird er beweisen müssen, dass er zu dichten weiß.

Titelbild

Dieter Krause: Geregelter Schwelbrand. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2020.
112 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305062

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