Ein Anti-Star des Literaturbetriebs

Zum 100. Geburtstag von Wolfdietrich Schnurre

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Unter den Frauen und Männern, die sich im September 1947 in einem Haus am Bannwaldsee im Allgäu trafen, um einander Texte vorzulesen und eine Zeitschrift zu gründen, war ein langer, dünner Berliner, der besonders ausgehungert wirkte. Er hieß Wolfdietrich Schnurre und eröffnete mit der Lesung seiner Kurzgeschichte Das Begräbnis das legendäre erste Treffen der später so genannten Gruppe 47. Die zuhörenden Männer und Frauen waren beeindruckt von der Geschichte und wahrscheinlich auch von der mitreißenden Vortragskunst Schnurres.

In Das Begräbnis geht es um den Tod Gottes und seine Beerdigung. Geschildert wird ein nächtliches Armenbegräbnis in deprimierender Nachkriegsatmosphäre. Selbst der Pfarrer weiß nicht, wer der Tote ist, er nennt ihn „n gewissen Klott oder Gott oder so ähnlich“. Die Geschichte gilt als inhaltlich und formal typisch für die sogenannte Kahlschlag- bzw. Trümmerliteratur. Im selben Jahr war Borcherts Stück Draußen vor der Tür erschienen, in dem Gott zwar noch lebt, aber angesichts des täglichen Sterbens eine jämmerliche Figur abgibt. Sprachlich zeigt sich der Wille zum Neuanfang in radikaler Verknappung, Alltagssprache und im Fehlen jeglichen Pathos.

Als Repräsentant der deutschen Nachkriegsliteratur hat Schnurre die gleiche Bedeutung wie Heinrich Böll, was dieser ausdrücklich anerkannte. Aber obwohl Schnurre manchmal über zu geringe Einkünfte als Schriftsteller klagte, verweigerte er sich doch dem Literaturbetrieb. Er nutzte die Gruppe 47 nicht als Karrieresprungbrett, tauchte dort nur manchmal auf und blieb dann jahrelang weg. Für seine zahlreichen Publikationen wechselte er häufig den Verlag. Und er ließ sich nicht auf eine Rolle festlegen. Die Öffentlichkeit nahm ihn einerseits als unbequemen Zeitkritiker, als „Ruhestörer“ (Reich-Ranicki) und andererseits als Humoristen mit Tendenzen zum Idylliker wahr. Er galt als Meister der kleinen Form, vor allem der Kurzgeschichte, spottete zuweilen über das Verlangen der Verleger und des Publikums nach dem Roman, veröffentlichte aber in seinem letzten Lebensjahrzehnt den vielschichtigen Roman Ein Unglücksfall, der mehr Beachtung verdient hätte, als er tatsächlich bekam.

Wie passt das zusammen? In seinem Leben sieht Schnurre eine klare Struktur. Er sei „dreimal zur Welt gekommen“, schreibt er. Im wörtlichen Sinn kommt er am 22. August 1920 in Frankfurt am Main zur Welt. Unmittelbar nach seiner Geburt verlässt die Mutter die Familie. Der Sohn verbleibt in der Obhut des Vaters, der als Bibliothekar, Tierpräparator und Ornithologe ein karges Auskommen hat und mit oft wechselnden Frauen zusammenlebt. Dem Sohn vermittelt er die Liebe zur Natur und Sympathie für die kleinen Leute. Zum zweiten Mal geboren fühlt Schnurre sich durch den Umzug nach Berlin 1928, denn die Stadt bestimmt sein Lebens- und Sprachgefühl für Jahrzehnte. Die dritte Geburt verbindet er mit der deutschen Katastrophe 1945 und seiner unversehrten Heimkehr aus dem Krieg. In seiner letzten Lebensphase fügt Schnurre diesen drei Geburten eine vierte hinzu, nämlich die Genesung von seiner schweren Polyneuritis, die ihn 1964/65 für mehr als ein Jahr ans Bett fesselt. Danach lernt er unter großen Anstrengungen wieder schreiben und gehen.

Schon während des Krieges, den er von Anfang an als Soldat miterlebt, beginnt Schnurre in kleinem Umfang zu publizieren. Literatur ist für ihn die Möglichkeit, der als schrecklich, grausam und unmenschlich wahrgenommenen Wirklichkeit in ein zeitenthobenes Reich der Schönheit zu entkommen. Nach dem Krieg fällt es ihm zunächst nicht leicht, sich von diesem Ästhetizismus zu lösen und sich zu einer littérature engagée zu bekennen. Den Weg dorthin beschreibt er 1949 in dem Essay Auszug aus dem Elfenbeinturm. 1963 fasst er sein Selbstverständnis noch einmal in dem Text Schriftsteller und Engagement zusammen. In dem satirisch angelegten fiktiven Tagebuch Sternstaub und Sänfte. Aufzeichnungen des Pudels Ali (1953) macht er sich über die schöngeistigen Dichter, mit Anspielungen auf Rilke und Ernst Jünger, lustig. Wer genau hinschaut, findet aber auch Spitzen gegen die restaurativen Tendenzen der Adenauerzeit, die der Autor in seinen Essays, Reden und Kurzgeschichten bekämpft. Trotz derartiger Spitzen ist es plausibel, dass Schnurre von Zeit zu Zeit einer Neigung zum Eskapismus nachgibt, jedoch nicht ohne sich dabei über sich selbst lustig zu machen. Auf die Satire lässt Schnurre – vordergründig – eine Idylle folgen, Die Blumen des Herrn Albin (1955). Deren Protagonist hat keinen anderen Lebensinhalt als seine Blumen, die er in seiner städtischen Mietwohnung hegt. Über diese Blumen heißt es allerdings im Text selbst, sie seien nicht schuldig geworden wie wir Menschen, sondern „das Entwaffnende (und daher Verpflichtende) an ihnen ist ja, daß sie unschuldig sind, und ihre Unschuld benutzen, uns sanft zu beschämen“.

Lebensthema Schuld

Wurde den zur Gruppe 47 zählenden Autoren zuweilen vorgeworfen, sie hätten sich entweder gar nicht oder nicht ausreichend zu ihrer Verstrickung in die Naziverbrechen bekannt, so trifft dieser Vorwurf Schnurre keineswegs. Im Gegenteil, die Schuld, die er durch seine sechseinhalbjährige Zugehörigkeit zu Hitlers Wehrmacht auf sich geladen hat, wird zu seinem Lebensthema. Zwar vertritt er nicht die Kollektivschuldthese, jedoch lässt er Rechtfertigungsversuche, die auf Nichtwissen oder Befehlsnotstand gründen, nicht gelten. Bereits 1946 stellt er in einer Kritik zu Wolfgang Staudtes erstem DEFA-Film der Nachkriegszeit den Filmtitel in Frage: „Die Mörder sind unter uns? Wir sind die Mörder.“ Jahrzehnte später (1978) gibt er in dem Aufzeichnungsband Der Schattenfotograf, der überraschend ein Verkaufserfolg wird, Einblick in sein maßgeblich vom Kriegserlebnis bestimmtes Denken. Das komplexe, sorgfältig komponierte Buch besteht aus Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungssplittern, Lektüreerfahrungen, Erzählfragmenten, Aphorismen und poetologischen Reflexionen. Es zeugt von Schnurres Beschäftigung mit Grundschriften des Judentums und von seiner Sympathie für die Sinti, denen er auch sein letztes Buch, Zigeunerballade (1988), widmet.

Umfassend bearbeitet er das Thema der missglückten deutsch-jüdischen Symbiose in dem Roman Ein Unglücksfall (1981), den die Kritiker verwarfen und der kaum Publikum fand. Den Stoff hatte Schnurre schon 1960 in seinem Hörspiel Die Gläsernen in eine erste Form gebracht. Teilaspekte hatte er in zwei Kurzgeschichten (Der Bau, Der Aufbruch) dargestellt. In einer waghalsigen literarischen Versuchsanordnung, die an Heinrich von Kleists Novellen denken lässt, treibt er im Roman das Schuldproblem auf die Spitze. Der Glaser Goschnik versteckt ein jüdisches Ehepaar vor den Übergriffen der Nazis in einem Keller, bewahrt sie vor der Deportation, gehört also weder zu denen, die bei den Judenpogromen schweigend zusehen, noch beteiligt er sich an ihnen. Vielmehr begibt er sich in höchste Gefahr, selbst verhaftet zu werden. Dennoch fühlt er sich schuldig, nachdem die beiden auf dem Friedhof den Tod gesucht haben, weil er sie, zur Wehrmacht einberufen, allein gelassen hat. Er hat sie von sich abhängig gemacht, hat ihre Liebe nur für sich beansprucht und war so vermessen zu glauben, er wisse, was sie denken und empfinden. Diese Geschichte erzählt der verunglückte Goschnik fünfzehn Jahre nach dem Krieg dem Rabbiner der Berliner jüdischen Gemeinde in Form einer Beichte im Sterbezimmer. Durch den Einbau eines großen Glasfensters in die wieder aufgebaute Synagoge hat er seine Schuld sühnen wollen und ist dabei abgestürzt. Schnurre wollte nicht nur Philosemit sein, sondern er wollte durch gründliches Studium (vor allem des Talmuds) und durch Empathie herausfinden, was es heißt, ein Jude zu sein. Es genügte ihm nicht, an die Millionen jüdischer Opfer zu erinnern, sondern es kam ihm darauf an, den Einzelnen aus der Anonymität herauszulösen und ihn als (Mit)Menschen wahrzunehmen. Jüdisches Leben im Nachkriegsberlin schildert Schnurre in seiner Fernsehserie Levin und Gutman (1983), in der bekannte Schauspieler wie Shmuel Rodensky und Werner Hinz mitspielten.

Kaum gewürdigt wurden bisher Schnurres Leistungen als Illustrator, die er selbst allerdings nach eigenem Bekunden nicht hoch einschätzte. Viele seiner Bücher illustrierte er mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die sich am ehesten als Mittelding zwischen Karikatur und Comiczeichnung charakterisieren lassen. Oft sind es Selbstkarikaturen, sie stellen lange, dünne Männer mit großen, traurigen Augen und Schnurrbart über heruntergezogenen Mundwinkeln dar. Auf anderen sind Tiere mit vermenschlichten Gesichtern zu sehen, auch diese eher traurig als heiter wirkend. So zeigt er sich auch in seinen Zeichnungen als Humorist mit einem weinenden Auge. Schnurre spielte seine Tätigkeit als Zeichner herunter, sprach davon, dass er „Männeken zeichne“, hielt aber bis zu seinem Tod der Gruppe der „Berliner Malerpoeten“ die Treue. Sein Zeichentalent nutzte er auch für seine zahlreichen Kinderbücher, die er teilweise zusammen mit seiner Frau Marina veröffentlichte.

Naturdarstellungen und politische Kritik

Die politisch inspirierte Literaturkritik der 60er Jahre lobte vor allem die Kurzgeschichten, ließ aber auch die Aufzeichnungen des Pudels Ali und die in dem Band Kassiber gesammelten Gedichte gelten. Hingegen bescheinigte man Schnurre wegen seiner vermehrt erscheinenden Skizzen und humoristischen Erzählungen, darunter die teils als Lesebuchklassiker bekannten Vater-Sohn-Geschichten (Als Vaters Bart noch rot war, Als Vater sich den Bart abnahm), einen Hang zum Sentimentalen, Beschaulichen. Ob es wirklich sinnvoll ist, Schnurres Œuvre aufzuspalten in zeitkritisch zupackende und betrachtend harmlose Texte, ist aber fraglich. In Stimmungsbildern aus dem versehrten Nachkriegsberlin bildet nämlich das Wissen über die zurückliegenden Ursachen der Zerstörungen den Subtext. Und die Naturschilderungen vermitteln lebendige Eindrücke von Landschaften, die in der technisch industriellen Moderne nur noch als Reservate existieren und deren Fortbestand nicht garantiert ist.

Dass bei Schnurre oft Naturbeschreibungen eng mit politischen oder sozialen Themen verknüpft sind, zeigt beispielhaft die Erzählung Das Manöver (1952). Hier bringt eine unvermutet auftauchende riesige Schafherde ein Manöver mit Panzern und Infanterie zum Stillstand und schließlich zum Abbruch. Am Ende wird erzählt, wie nach dem Abzug des Militärs die Tierwelt zu ihrem normalen Leben zurückfindet. Dem Autor gelingt das Kunststück, seine Kritik an der geplanten Wiederbewaffnung Westdeutschlands in eine Geschichte zu bringen, die zunehmend absurde Züge annimmt. In den Parabeln der fiktiven Chronik Das Los unserer Stadt (1959) thematisiert Schnurre das spannungsvolle Verhältnis von Natur und Zivilisation. Dabei übt er, stark verschlüsselt, Kritik am neuen Militarismus sowie am Wirtschaftswunder-Enthusiasmus der Adenauerzeit.

Zu direkten politischen Verlautbarungen ließ Schnurre sich nur selten bewegen. Vor allem nach dem Bau der Berliner Mauer verfasste er Manifeste und Appelle, unter anderem an den Schriftstellerverband der DDR und an einen Volkspolizei-Offizier. Als dies wirkungslos blieb, trat er aus Protest gegen das Schweigen zum Mauerbau aus dem deutschen PEN-Zentrum aus. Nach seiner darauf folgenden schweren Erkrankung modifizierte er seine Position zur Teilung Deutschlands und führte diese auf den von Deutschland entfesselten Weltkrieg sowie zum Teil auf die Politik des Westens zurück. Er blieb aber kritisch gegenüber der kommunistischen Diktatur – nicht zuletzt deshalb, weil er es ablehnte, sich als Schriftsteller einer Parteidisziplin zu unterwerfen. Die Öffnung der Berliner Mauer erlebte Schnurre nicht mehr. Er starb am 9. Juni 1989 in Kiel.

Die Literatur darf sich aus Schnurres Sicht weder ökonomischen Zwängen beugen, noch soll sie sich für politische Ziele instrumentalisieren lassen oder sich im Sinne von l’art pour l’art nur um sich selbst drehen. Die Literatur, so formuliert er in seiner Büchner-Preisrede 1983, handle vom Einzelnen, und zwar vom unbekannten, namenlosen Einzelnen, nicht von Berühmtheiten. Im Sinne ihres humanistischen Auftrags habe sie Vorschläge zu machen, die mit „Individualismus, Entscheidungsfreiheit und Würde“ zu tun hätten. So ist es wenig überraschend, dass dieser Autor sich den verfestigten Ritualen und dem Medienrummel um die Gruppe 47 nicht unterwerfen wollte. Dennoch erwies er ihr einen letzten Dienst. Bei ihrer Tagung 1977 in Saulgau las er noch einmal seine Kurzgeschichte Das Begräbnis vor und besiegelte so symbolisch ihr Ende.