Ein schwieriger Einzelgänger

Wolfdietrich Schnurre zum sechzigsten Geburtstag (1980)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Was hat den Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre, der aus Frankfurt am Main stammt, aber in Berlin aufgewachsen ist und heute sechzig Jahre alt wird, denn eigentlich geprägt? Man kann es kurz sagen: der Zweite Weltkrieg. In der Wehrmacht wurde ihm eine primitive, gewaltsam beschleunigte und, wie sich zeigte, sehr nachhaltige Erziehung zuteil. Sie dauerte lange: Da man ihn schon Anfang 1939 eingezogen hatte, mußte er sechseinhalb Jahre Soldat sein. Zuletzt war er übrigens in einer Strafkompanie und dies mit gutem Grund: Man warf ihm Untergrabung der Manneszucht vor.

1946 kam Schnurre wieder nach Berlin. Sein Zustand war beklagenswert: „Die Erinnerung höhlt mich aus. Die Furcht nimmt mir den Atem. Ich kann nicht mehr.“ Er machte sich keine Illusionen: „Ich bin kein Psychiater.“ Es wurde ihm also bewußt, daß er sein psychisches Gleichgewicht verloren hatte. Eine persönliche Krise? Gewiß doch, aber sie hatte historische Gründe. Eine schwere Krankheit? Ja, aber es war eine Zeitkrankheit.

Mit dieser Selbstdiagnose des Heimkehrers von 1946 ist zugleich die Ausgangsposition des Schriftstellers Schnurre angedeutet. Er suchte Worte, um sich nicht aufzugeben. Er begann zu schreiben, um sich der ihn bedrängenden Erinnerung zu erwehren, er mußte erzählen, um seine Unrast zu bekämpfen. Literatur ist immer Selbstverständigung. Hier jedoch war der entscheidende Impuls etwas anderer Art – nämlich Selbstverteidigung. Und das Motiv im Mittelpunkt: Angst, das Gefühl der Bedrohung.

So war es damals, als der junge Heimkehrer draußen vor der Tür stand. Nur damals? Schnurre hat inzwischen viel durchgemacht, er ist reifer geworden, er hat literarisch manches versucht, was – wen könnte das wundern? – nicht immer gelingen wollte. Aber in einem gewissen Sinne hat er sich nicht geändert. Das sollte weder als Vorwurf noch als Kompliment verstanden werden. Gemeint ist vielmehr: Er hat sich nie mit seinen Kriegserlebnissen abgefunden, er war nie bereit, die deutsche Vergangenheit zu bewältigen. Ein schwieriger Einzelgänger ist er bis heute geblieben. Sein psychisches Gleichgewicht hat er wohl nie wiedererlangt. Und eben diesem Umstand verdanken wir sein literarisches Werk.

Es ist umfangreich und auf den ersten Blick nicht gerade übersichtlich. Das mag damit zusammenhängen, daß es zwar viele Bücher von Schnurre gibt, doch kein einziges, das als repräsentativ gelten könnte. Er hat weder Romane noch Dramen geschrieben. Er ist – trotz wichtiger publizistischer Äußerungen – auch kein Essayist. Und anders als manche seiner Kollegen, die uns jahraus, jahrein mit ihren kühnen, doch dürftigen epischen Entwürfen langweilen, vermochte Schnurre die Eigenart seines Talents zu erkennen und daraus die praktischen Folgerungen zu ziehen.

Dieser herbe zeitkritische Poet kann sein leidendes Verhältnis zur Umwelt am stärksten in der kleinen Form ausdrücken – in der Kurzgeschichte und in der Novelle, in der lyrischen Miniatur und in der prägnanten Satire. Und vor allem: in der Parabel.

Nicht die Analyse spielt hier eine wesentliche Rolle, wohl aber der sinnfällig gemachte Protest, die poetische Synthese, die zeitkritische Vision. Ungleich mehr als die Charaktere, die oft holzschnittartig sind, faszinieren ihn die Situationen, in die Menschen unserer Zeit hineingestoßen werden. Er ist ein vornehmlich emotionaler, ein passionierter, bisweilen ein hektischer Ankläger unserer Epoche.

Das alles gilt für die Geschichten in jenen frühen Bänden Schnurres, die ihn literarhistorisch als Nachbarn seiner Generationsgenossen Wolfgang Borchert und Heinrich Böll ausweisen: „Eine Rechnung, die nicht aufgeht“ (1958) und „Man sollte dagegen sein“ (1960). Nach der Zeit der leeren Worte und der monumentalen Lügen schien die sparsame und kurzatmige Prosa den neuen Verhältnissen am ehesten angemessen zu sein. Noch hört man in manchen dieser Geschichten das Stammeln und Keuchen des Mannes, der unlängst die Landseruniform getragen hatte, noch klingt seine Stimme rauh und heiser. Doch ihm gelingt es, der Rauheit Ausdruckskraft abzugewinnen und die Heiserkeit zum Stilmittel zu erheben.

Auch wenn sich in diesen Geschichten in der Regel nicht viel ereignet, so haben sie sich über Jahrzehnte hin im Gedächtnis bewahrt. Denn der engagierte Schriftsteller Schnurre war immer auch ein bewußter Artist, der den gesellschaftskritischen Appell mit einem suggestiven, einem überzeugenden Bild zu artikulieren vermochte. Seine Helden sind die Leidtragenden, die Opfer der Katastrophe: verwundete und sterbende Soldaten, Halbwüchsige, die in den Krieg ausziehen müssen, Flüchtlinge, die ihr Kind verhungern lassen, deutsche Kriegsgefangene, die durch die russische Steppe irren. Sie haben keine Heimat, sie kennen keinen Trost. Der Himmel über ihnen ist grau und leer.

Charakteristisch für Schnurres Prosa sind auch die oft im Mittelpunkt stehenden Kinder und Halbwüchsigen: Auch sie sind unglückliche Außenseiter, gequälte Kreaturen, Verstoßene und Verirrte wie jener 1945 in Berlin geborene, doch auffallend mongolisch aussehende Schuljunge, der, von allen schikaniert und verfolgt, in einer Trümmerlandschaft Schutz sucht. „Steppenkopp“ lautet der Titel dieser berühmten Geschichte.

Vielleicht sind manche einst erfolgreiche und vieldiskutierte Bücher Schnurres mittlerweile schon in Vergessenheit geraten – so das allzu ambitiöse und mit Symbolik überladene Berlin-Buch „Das Los unserer Stadt“ (1959), so der etwas zwiespältige Erzählungsband „Funke im Reisig“ (1963). Was macht das schon aus, wenn die besten in diesen Bänden enthaltenen Stücke doch am Leben geblieben sind – in zahlreichen Anthologien und Lesebüchern.

Und wer da voreilig meinte, Schnurres Zeit sei schon vorbei, der wurde unlängst eines besseren belehrt: Das Buch „Der Schattenfotograf“ (1978), ein reichhaltiger Band mit Tagebuch-Aufzeichnungen und Reflexionen, hat die Rezensenten entzückt und gehört zu seinen größten Erfolgen.

In Schnurres noch aus den fünfziger Jahren stammender Geschichte „Die Tat“ bekommt ein ehemaliger  Kriegsgerichtsrat, der einst unmenschliche Urteile gefällt hat, die simplen. Worte zu hören: „Schuldig sind wir alle … Was wir aus unserem Schuldgefühl machen, wie wir uns einrichten mit ihm – darauf kommt’s an.“ Dem Programm, das sich in diesen Worten verbirgt, ist Schnurre treu geblieben.

Hinweise der Redaktion: Vorlage für die erneute Veröffentlichung dieses Artikels hier (mit freundlicher Genehmigung von Carla Ranicki ) ist der Erstdruck in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,  22. August 1980.  Weitere  Veröffentlichungen Reich-Ranickis über Schnurre: Ein Gesellschaftskritiker mit Poesie und Humor. Wolfdietrich Schnurre gehört zu den besten deutschen Erzählern der Nachkriegszeit (Die Zeit, 3. März 1961); Vom Engagement überwältigt. Wolfdietrich Schnurres Reaktion auf die Gegenwart ist keine Ausnahme (Die Zeit, 29. November 1963); Der militante Kauz. Wolfdietrich Schnurre (M. Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost. München: Piper 1963. S. 143-155);  Nachwort. In: Wolfdietrich Schnurre: Die Erzählungen. Olten 1966. S. 428–442). T.A.