Von alt gewordenen Jung-Wienern
Über einstige Autoren der Wiener Moderne und deren späte(re) Kulturkritik
Von Günter Helmes
Der Titel des begrüßenswerten Bandes Kulturkritik der Wiener Moderne (1890-1938) ist insofern irreführend, als es faktisch – so auch die Herausgeberinnen in ihrem einleitenden Beitrag gleichlautenden Titels – um „die Kulturkritik der Autoren des ‚Jungen Wien‘ vor allem in Auseinandersetzung mit zentralen historischen Zäsuren (1914/1918, 1933/1934, 1938)“ geht. Der Zeitraum von ca. 1890 bis 1910, den man landläufig mit „Wiener Moderne“ verbindet, steht also gar nicht im Fokus und wird auch nur vereinzelt angesprochen.
Die insgesamt neunzehn Beiträge des Bandes, der „Kulturkritik als Krisenreaktion, ‚politische Gefahr‘ (Fritz Stern) und ästhetisches Potential“ ins Auge fasst, sind von unterschiedlicher Qualität, doch allesamt – auf ihre Art – lesenswert. Mit wenigen Ausnahmen entwerfen sie ein bedenkliches Bild vom (kultur-)politischen Denken der ‚Alt-Jung-Wiener‘. Bis auf den einleitenden Beitrag der Herausgeberinnen sind die Beiträge drei tauglichen, jedoch nicht mit letzter Konsequenz ‚bedienten‘ „Sektionen“ zugeordnet: „I. Elitekonzepte und Traditionsstiftungen“, „II. Kulturkritische Aushandlungen von nationaler Identität“ und „III. Fiktionalisierungen und mediale Experimente – Kulturkritik als ästhetisches Potential“.
Dabei ist mehr als ein Drittel der Beiträge Hugo von Hofmannsthal (zwei davon auch Rudolf Borchardt und Karl Anton Prinz Rohan) gewidmet, dem damit ein allerdings sehr großes Gewicht zukommt. Positionen oder Werke von Hermann Bahr, Felix Dörmann, Karl Kraus, Felix Salten und Arthur Schnitzler werden in zwei bzw. drei Beiträgen verhandelt, während Leopold von Andrian, Richard Beer-Hofmann, Richard Schaukal sowie Hugo Bettauer und Arthur Rundt (sind Letztere Autoren des ‚Jungen Wien‘?) nur einmal einlässlich thematisiert werden.
Mit „Wiener Moderne“ in enger Verbindung stehende Namen wie Peter Altenberg, Raoul Auernheimer, Richard Specht, Jakob Wassermann oder Paul Wertheimer tauchen nur am Rande oder gar nicht auf, doch kann ein Sammelband wie dieser selbstverständlich nicht alle bzw. alles abdecken. Ein Gewinn wäre aber zumindest ein Beitrag gewesen, der das kulturkritische Denken der „gealterten“, keinesfalls länger einen „homogenen Dichterkreis“ bildenden „Jungwiener“ um der Kontextualisierung willen zu kulturkritischen sowie zeit- und gesellschaftskritischen Beiträgen der nächsten Generation(en), also beispielsweise zu Ödön von Horvath, Marta Karlweis, Robert Müller, Robert Musil oder Joseph Roth in Verbindung gebracht hätte. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass man dem weiten Kulturkritik-Begriff der Herausgeberinnen folgen kann – diese sei „prinzipiell in politisch linken und rechten Spielarten denkbar“ –, eine engere Begriffsfassung, die „Kulturkritik“ an die zum zukunftsweisenden Muster erhobene idealisierte Vergangenheit (Koselleck, Bollenbeck), „Zeit- und Gesellschaftskritik“ hingegen an utopisches Denken bindet, distinktiv und (kultur-)politisch aber Vorteile bietet.
Der einleitende Beitrag der Herausgeberinnen Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza, aus dem bislang zitiert wurde, erfreut schon dadurch, dass er sieben bemerkenswerte Abbildungen aus dem Jahr 1913 vorhält und ausführlich unter den Stichworten „Venedig“ und „‚Wiener Präsenz am Lido‘“ kontextualisiert. Diese Abbildungen zeigen, meist in Badekleidung (!), einige der genannten Jungwiener, dazu (meist bekleidet) weitere Kulturgrößen der Zeit wie bspw. Alexander Moissi, Koloman Moser, Samuel Fischer und Franz Zavrel sowie Familienangehörige von Beer-Hofmann und Schnitzler.
Inhaltlich bietet der Beitrag einen souveränen, auch die jeweilige Forschungsliteratur und die hier versammelten Beiträge aufrufenden Einstieg in die Oberthemen „Wiener Moderne“ und „Kulturkritik“, in miteinander verflochtene, unter dem Thema „Kulturkritik als ‚politische Gefahr und ‚Krisenreaktion‘“ firmierende Teilthemen wie „Europa-Visionen“, „Nationalismus“, „Konservative Revolution“ und „Aristokratismus“ sowie in das Thema „Fiktionalisierungen der Kulturkritik“. Zu Recht argumentieren die Herausgeberinnen (wie etliche BeiträgerInnen auch) gegen einen „schroffen Bruch“ zwischen dem „Spätwerk der Jungwiener“ und deren „ästhetizistischen Anfängen“ und verweisen vielmehr auf „Kontinuitäten“.
„I. Elitekonzepte und Traditionsstiftungen“
Gregor Streim geht sehr gründlich den „Bedeutungen[en]“ und „Funktionen“ von Hermann Bahrs polyvalentem Barock-Begriff zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten nach, um so die gängige These von Bahrs „‚Revokation der Moderne‘“ zu hinterfragen. Im Einzelnen macht er für den Zeitraum bis 1918 u.a. katholisch-weltzugewandte, „kulturkritische“, „religiös-soziale“, „politisch-religiöse“, politisch-nationale und politisch-„übernationale[]“ Semantiken aus. Nach Kriegende dann konnotiere Bahr – „radikal konservativ[], antiaufklärerisch[]“ und „antisemitisch[]“ – „den Barock auch mit einer theatral-literarischen“ und ästhetisch-metaphysischen Kultur, die er freilich „identitätspolitisch“ zu funktionalisieren versuche. Es erweise sich für Bahr allerdings, dass für basal politische Ziele eine „ästhetisch-anthropologische“, „enthistorisierte[]“ Stilbestimmung die zuträglichere sei. So werde Bahrs Rede vom „‚zweiten Barock‘“ und von „‚unser altes Österreich‘“ zur „Chiffre einer abstrakten Idee kultureller Totalität“ – und Bahrs späte Kulturkritik „modern“.
Maurizio Pirro verortet präzise Richard Schaukals antiaufklärerischen und „antihermeneutischen“, ebenso pessimistischen, verbittert-zensorhaften wie antisemitisch „bodenlos[]“ dummen „Elitismus“, der sich in der „ideale[n] Vorstellung einer vormodernen Welt“ ohne „alle[] soziale Dynamik“ und von „abgeschirmte[r] Geselligkeit“ niederschlage, sowohl unter „kulturgeschichtliche[r]“ als auch unter „psychologische[r]“ Perspektive. Dieser „Elitismus“ sei „nur aufgrund seiner kunsttheoretischen Voraussetzungen und Implikationen“ ganz zu verstehen. Schaukal gehe es um eine Kunst des interessenlosen, „unbedingten Formkultes“ und um eine an der Künstler-Persönlichkeit ausgerichteten „ästhetische[n] Kommunikation“ unter kongenialen, auratisierten „Eingeweihten“. In diesem Zusammenhang kommt den „Künstlertypologien“ des „Dilettanten“, des „Gentleman“ und des „Dandy“ sowie dem Konzept der „Totalität“ („Kunst und Leben“, „Form und Praxis“) herausragende Bedeutung zu.
Jochen Strobel verfolgt sorgfältig die „kulturkritische Anverwandlung des Adels“ und deren „ästhetische Strategien“ nach dessen offizieller Abschaffung in Österreich 1918. Dazu rückt er die „Adelssemantik“ bei Felix Salten, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal und Richard von Coudenhove-Kalergi in den Blick. Salten demonstriere den semiotisch folgenreichen „historischen Übergang“ des „Ideal[s] ‚Adel‘“ von „einer Herrschaftselite zur Prominenz“. Kraus unterscheide scharf „zwischen wahrem […] und äußerlichem, zugeschriebenen und somit kontingentem Adel.“ Hofmannsthal gebe dem Adel „nach einem Zeitenbruch“ als „kulturellem Konzept eine Chance“: „Abwesende Anwesenheit – ‚innerer‘ Adel.“ Coudenhove-Kalergi schließlich vertrete einen „geschichtsphilosophischen Aristokratismus“: nach der „‚feudalen Aristokratie des Schwertes‘“ die „‚soziale[] Aristokratie des Geistes‘“.
Tillmann Heise zeichnet überzeugend Hofmannsthals gegen „aufklärerische[] und im weitesten Sinne liberal-demokratische Konzepte“ gerichtete, mit „prophetischer Pose“ vorgetragenen „Europaideen der 1920er Jahre“ nach. Die seien „maßgeblich“ im Kontext von Karl Anton Rohans „Kulturbund“ und dessen Europäische Revue zu sehen. Hofmannsthal gehe es in Gegenrede bspw. zur „Paneuropa-Union“ und zum „Völkerbund“ um „die Geburt des rundum erneuerten Sinnstifters Europa aus dem Geist der traditionsbewussten nationalen Selbstbesinnung“. Er bekenne sich von daher zu „selbstbewusst-kulturpatriotischen“, in einem „Verbund ungleicher Nationen“ allerdings „hierarchisch strukturierte[n]“ „Nationalismen“ und revitalisiere „in kulturellem Gewand“ insbesondere „seine Idee einer österreichischen Berufung zur zentraleuropäischen Ordnungsmacht“.
Norbert Christian Wolf setzt sich kenntnisreich mit den Hoffnungen auf eine und den Versuchen zu einer „‚katholisch-österreichische[n]‘ Theaterreform“ sowie mit den einhergehenden Zerwürfnissen unter den ehemaligen ‚Jungen Wienern‘ in dem Jahrzehnt 1918-1928 auseinander. Neben Hofmannsthal fallen hier insbesondere die Namen Andrian und Bahr sowie die Stichworte „Salzburger Festspiele“ und „Wiener Hoftheater“. „Kursorisch[]“ wird zunächst die „erneute Kooperation Hofmannsthals mit Bahr im Zusammenhang“ mit Salzburg im Zeichen von gemeinsamer Moderne-, Preußen- und genereller Kulturkritik betrachtet, bevor „die diesem Festival zugrundeliegende antirevolutionäre Kulturkritik im Zentrum“ steht. Hofmannsthal gehe es in seinen programmatischen, das Salzburger Programm erläuternden Texten um die Betonung „der ‚Lebendigkeit‘ einer angeblich kontinuierlichen bayerisch-österreichischen Theatertradition“, der „gesamtdeutsche[n] Sendung der Salzburger Festspiele“, der „angebliche[n] soziale[n] Inklusionskraft“ der Festspiele sowie, gerade angesichts des verworfenen „Berliner Tendenztheaters“, deren Kohäsionskraft in sozialer und kultureller Hinsicht.
„II. Kulturkritische Aushandlungen von nationaler Identität“
Elena Raponi geht es um die Fragen, ob sich bei Rudolf Borchardt und Hofmannsthal die „Einstellung zum Krieg“ mit der Zeit geändert hat und „welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihre Kriegspublizistik aufweist.“ Der abstrakt-idealistische Militarist, Nationalist und Ideologe Borchardt habe in „elitäre[r]“, „antidemokratische[r]“ und „das Volk“ verachtender „Haltung“ privat wie öffentlich den Krieg „bis zum Ende“ mit „hemmungsloser Heftigkeit“ befürwortet und geschürt. Der inhaltlich – „‚Kulturkrieg‘“ und „europäische Sendung“ – wie rhetorisch – „verklärende[s] Pathos und pragmatische[r] Realismus“ – „schillernde“ Hofmannsthal hingegen vollführe „in vieler Hinsicht ein radikales Umdenken“, so die dann wohl zu steil geratene These, wenn man nicht nur auf dessen private Äußerungen und die im Entstehen begriffene Komödie Der Schwierige schaut, sondern auch auf seine Publizistik der Zeit.
Cristina Fossaluzza hebt die Sonderstellung hervor, die Schnitzlers projektierte Komödientrilogie O du mein Österreich als „Kritik an der Kulturkritik“ einnimmt, und diskutiert dieses Projekt „vor der Folie von Schnitzlers Zeitkritik im Nachlass, im Briefwechsel und in den Tagebüchern“. Als Kriegsgegner von Beginn an bezeichne der öffentlich bewusst schweigende, doch aufmerksam beobachtende Schnitzler nunmehr privat den früher „‚Snobismus‘“ gescholtenen Bezug der ‚Jungen Wiener‘ zur „Wirklichkeit“ als „‚Krankheit der Zeit‘“ und bekämpfe kriegsapologetische Dogmen. Unter Hinweis auf ähnlich argumentierende Forschungsliteratur zeigt die Verfasserin dann in einem erhellenden close reading, wie diese Zeitkritik als Gesellschafts- und Sprach(gebrauchs)kritik in der genannten Trilogie und weiteren literarischen Texten zum Ausdruck kommt.
Jan Andres beleuchtet Hofmannsthals „geistige Nationsbildung in den 1920er Jahren“, so wie sie sich vor allem in Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927) darstellt. Das adäquate Verständnis dieser Rede habe allerdings nicht nur die Kontextualisierung durch die in sich „weder ästhetisch noch politisch“ „geschlossene[n] Bewegung“ „Konservative Revolution“ zur Voraussetzung. Entscheidender noch sei jenes „Gravitationsfeld der Schriftumsrede“, dass durch „mehrere privilegierte Werkkontexte“ aus den Veröffentlichungen der in „Strukturanalogie mit dem George-Kreis“ entstandenen Bremer Presse und hier insbesondere durch die „bemerkenswerten Vorreden“ Hofmannsthals zu den „Neuen deutschen Beiträge[n]“ markiert werde. Hofmannsthal sei „kein Nationalist“ und denke „geistige[] Nationsbildung […] zunehmend europäisch“, mit „Frankreich als Modell“. Er trage somit wesentlich zur – „[f]rei nach Hort Thomé“ – „Europa-Anschauungsliteratur“ bei.
Der in wesentlichen Zügen bereits früher publizierte Beitrag von Kurt Ifkovits nimmt sich Bahrs Kulturkritik in dem von ihm herausgegebenen Tagebuch aus dem „Neuen Wiener Journal“ der Jahre 1927 bis 1931 vor. Bestimmt wird, was Bahr am Ende seines Lebens als „Fürsprecher einer Antimoderne“ unter einer Reihe von Termini versteht. „Moderne“ bezeichne „alles von ihm als negativ Besetzte“, „Impressionismus“ ästhetische wie charakterliche wie generationelle „Schwäche“, „Barock“ als „paradigmatischer Gegenentwurf“ zu „Moderne“ alles Positive. Positiv seien für den basal antizivilisatorisch und restaurativ gesinnten, sich als „Priester und Seher“ gerierenden und „apodiktisch“ verkündenden Bahr u.a. „Glaube“ (Katholizismus) und „Herkunft“ („Rasse“, „Stamm“), der „faschistische Aktivismus italienischer Prägung“ und generell die „autoritären Bewegungen seiner Zeit“.
Hermann Dorowin liefert einen charakterliche Integrität und konsequentes Handeln betonenden Abriss zu Leben und Werk des in strikten Hierarchien denkenden „Legitimist[en]“ und ‚Ständestaatlers‘ Leopold von Andrian. In seinem als „Viergespräch“ angelegten, in der Ausführung jedoch unbefriedigendem „historisch-politischen Hauptwerk“ Österreich im Prisma der Idee (1936) habe Andrian einen „ideologische[n] Zweifrontenkampf“ gegen „Volkssouveränität“ einerseits und „den hegemonialen Anspruch Deutschlands“ andererseits geführt.
„III. Fiktionalisierungen und mediale Experimente – Kulturkritik als ästhetisches Potential“
„‚Epater le bourgeois‘“ sei die „Devise“ des jungen, bald als ein „‚lyrischer Poseur ersten Ranges‘“ (J. M. Fischer) wie ein „Meteor aus dem Literaturfirmament“ verschwindenden Felix Dörmann gewesen, betont Gabriella Rovagnati in ihrem knappen Beitrag. „Begabt, aber oberflächlich“, habe er „sich nicht einmal in den Genres“ Operette und Film, „denen er sich in seiner zweiten Produktionsphase vor allem hingab“, „künstlerisch“ weiterentwickelt.
Barbara Beßlich thematisiert ‚großvolumig‘ zugleich Karl Kraus’ Kritik an der Wiener Operette, „das Verhältnis des Jungen Wien zur leichten Muse“ und, als „populär[e]“ Form von Kulturkritik, Operettenlibretti von Schnitzler, Felix Salten und Felix Dörmann. Für Kraus, so wird detailliert belegt, war besagte Operette letztendlich „ein musikalischer Untergang des Abendlandes“. Salten hingegen habe sie in freilich problematischer Stellvertretung für die „Jungwiener“ begrüßt, die schon früh „auch produktionsästhetisch Grenzgänger zwischen U- und E-Kultur“ gewesen seien. Schnitzler knüpfe mit Der tapfere Cassian an die „Tradition der Offenbachiaden“ an, während sich Salten mit Mein junger Herr „in keiner Weise“ an die eigenen theoretischen Forderungen nach „Stoffe[n] der Gegenwart“, Kosmopolitismus und „‚karessante[r] Sinnlichkeit‘“ halte. Dörmanns zusammen mit Leopold Jacobson verfasstes Libretto Ein Walzertraum entwerfe Wien als „Sehnsuchtsort“ und gehöre zu den „Jungwiener“ Abgrenzungsversuchen vom Preußentum allgemein und von der Berliner Moderne im Besonderen.
Leonie Heim rückt gekonnt Hofmannsthals sich am zeitgenössischen Japonismus / Asiatismus / Exotismus und hier insbesondere an Lafcadio Hearns Kokoro orientierende pure „Imagination des ‚alten Japan‘“ als „Projektionsfläche für ein vormodernes Paradies“ in den Blick. In direkter oder indirekter Kritik gehe es Hofmannsthal ein ums andere Mal um die den Europäern einst eigene, doch nunmehr abhanden gekommene „‚Ganzheit‘“. Diese sei für ihn „überall dort zu finden, wo die Moderne nicht ist“.
Marco Rispoli diskutiert souverän anhand von mehrheitlich dialogisch-fiktiv organisierten essayistischen und theatralischen Texten der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und des Prologs Das Theater des Neuen (1926) Hofmannsthals sich selbst relativierende und konterkarierende, um „Individualität“, „Alleinheit“ und „‚Volksgemeinschaft‘“ kreisende (Sprach-)Kritik der konservativ-kulturpessimistischen Kulturkritik, der er selbst freilich zusehends angehörte. Sein diesbezügliches Denken sei dadurch bestimmt, dass es nicht auf „Synthese“, „Konsens“ oder auf ein „Endergebnis“ aus sei, sondern auf „Spannung“, Unabgeschlossenheit, „Ausbalancieren“ und einen „‚Ausgleich von Revolution und Tradition‘“.
Paolo Panizzos brillanter Beitrag demonstriert, dass Schnitzler mit der Novelle Casanovas Heimkehr „eine literarische Antwort auf die zeitgenössische publizistische Debatte um den ‚Kulturkrieg‘ und auf die allgemeine Kriegsbegeisterung der deutschsprachigen Künstler und Intellektuellen“ gibt. Leitmotivisch gehe es, festgemacht an (einem „,Mythos‘“) Voltaire, um das Verhältnis zur Aufklärung und zum Freidenkertum und dasjenige zu den transnationalen „symbolischen ‚Fronten‘“ „Kriegsbejaher“ und „Friedensfreunde“. Dabei verwandele sich die Schimpftirade auf Voltaire des zum „‚Tartuffe‘“ mutierten Casanova unter der Hand zu einem „offene[n] Plädoyer für die Aufklärung“. Das wiederum richte sich gegen die „‚Tartüfferie‘“ von Schnitzlers „intellektuelle[r] Zeitgenossenschaft“ und hier eben auch gegen die „‚alt gewordenen‘ Jungwiener[]“. Von daher stehe der geschilderte „physische[] und moralische[] Verfall“ Casanovas auch für den „Verrat einer gealterten und zum Sterben verurteilten Epoche an den eigenen Idealen und der eigenen Kultur.“
Der Beitrag von Dirk Niefanger über Richard Beer-Hofmanns Fragment gebliebenen Dramenzyklus Die Historie von König David nimmt in vorbildlicher Weise kritischen Bezug zur religiös argumentierenden Forschungstradition. Im Unterschied zu dieser sieht er in der Historie allerdings „ein immens politisch motiviertes Projekt“. Niefanger kann (in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Kritiker Hofmannsthal) überzeugend darlegen, dass insbesondere das „Vorspiel“ Jaákobs Traum einen „nationalpolitischen bzw. ethnischen Aspekt“ hat. Wenn dieser Aspekt dann aber zu einem „chauvinistischen[n] oder nationalistische[n] Anliegen“ erklärt und zugleich behauptet wird, die Historie sei „weniger eine religiöse Reaktion auf Modernisierungskrisen“ als vielmehr eine politische, wird der Autor Beer-Hofmann ohne textlichen Beleg diskreditiert und eine von Niefanger beklagte Einseitigkeit der bisherigen Forschung tendenziell durch eine eigene ersetzt.
Die wohl weniger als wissenschaftlicher Beitrag und mehr als Bekenntnis zu Tierliebe, Vegetarismus und Gutsein gemeinten Überlegungen von Nikola Roßbach zu Felix Saltens Bambi sind u.a. durch ein hohes Maß an Subjektivität, (begriffliche) Vagheit, prononcierte, moralisch grundierte Thesen sowie maximalistische oder saloppe Formulierungen bestimmt. Bspw. versichert die öfters von ihrem „Gefühl“ und ihrem „[E]indruck“ sprechende Verfasserin, sich „wirklich nicht erinnern [zu können], jemals einen so menschenfeindlichen Text wie Bambi gelesen zu haben“, und es wird über ein einseitiges Verständnis von „Jagd“ ein „nicht aufzulösender Widerspruch“ zwischen dem „Tierfreund“ und dem „Jäger“ Salten behauptet. „Grausam“ bzw. „Grausamkeit“ und „dunkel“ (sowie deren lexikalisches Umfeld) gehören zu den am häufigsten verwendeten Wörtern. „Rehe sind die besseren Menschen“ dürfte von daher nicht nur die behauptete Botschaft des Textes sein, sondern auch diejenige der Verfasserin.
Primus-Heinz Kucher zeichnet dank Textnähe und breitem Kontextwissen gründlich nach, wie literarisch auf die „deregulierten Verhältnisse[] nach 1918 […] insbesondere […] an den Schnittstellen von sozialem Status, Ökonomie und Habitus“ reagiert wird. Hugo Bettauers Hemmungslos und Das entfesselte Wien „offeriert[en]“ mit „kulturoptimistische[m]“ Grundton ein „breites Register“ an forcierter Auflösung und reagierten darauf auch in gestalterischer Hinsicht. Felix Dörmanns „Kaleidoskop von rasch ablaufenden Szenen“ Jazz verbinde zwei „Themen“ bzw. „Lebensentwürfe“ („Zusammenbruch“, „Nachkriegsjahre“) in einer dem „Ansatz“ nach „sprach-musikalischen Partitur“. Arthur Rundt schreibe sich mit Amerika ist anders und insbesondere mit dem Roman von „ungewöhnliche[m] Rang“ Marylin „eindrucksvoll als vielseitiger Kulturkritiker und interessanter Romancier“ in die seit Mitte der 1920er Jahre virulente „Amerika-Debatte“ ein.
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