Protest als Demokratiegenerator?

Armin Nassehi skizziert in „Das große Nein“ die Widersprüche gegenwärtiger Formen der Kritik

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Analog zur Grundfrage seines Buchs zur digitalen Gesellschaft (Muster, 2019) wirft der Münchener Soziologe Armin Nassehi auch in seinem neuesten, deutlich kompakter daherkommenden Text zu einer Art phänomenologischen Entwurf von Protest eine überzeugende Einstiegsfrage: Anstatt bestimmte Wertungsdimensionen aufzurufen, fragt er – gewissermaßen im Schiller’schen Sinne naiv – nach dem Lösen eines Bezugsproblems: Im Fokus steht damit die offene Frage, für welche konkreten Konfliktkonstellationen sowohl die Digitalisierung als eben auch Formen des Protests eine (zumindest als solche gedachte) Lösung darstellen. Das ist insofern ein überzeugender (und im besten Sinne systemtheoretischer) Schachzug, als die Frage der Funktionalität des zur Diskussion Stehenden erstmal sehr produktiv den Fokus in Richtung des genuin soziologischen Zugangs verschiebt, der gesellschaftliche Phänomene strukturell einzuordnen sucht.

Sein punktueller Einführungstext zu einem Grundmodus von Protest setzt dabei die Auffassung ins Zentrum, dass Fridays for Future, Pegida oder auch die aktuellen vielfältigen und zumeist widersprüchlichen Demonstrationsformate um die „Corona-Politik“ Ausdruck der Idee sind, Themen zu setzen, die sich sowohl formal als auch inhaltlich dem Zuschnitt politischer Agenden widersetzen. Die in ihnen zum Tragen kommende Kritik soll auf diese Weise dezidiert das Routinierte, Erwartbare, „Systemische“ (so problematisch sich dieser Begriff auch gestaltet) herausfordern und dazu diametral entgegengesetzt konstituiert sein. So ließe sich in erhellender Weise etwa erklären, warum die Klimaproteste ausgerechnet an Freitagen stattfinden oder die Demonstrierenden in Berlin jüngst auf ihren Mund-Nasen-Schutz verzichteten – hier sind Ablehnung und Entgrenzung eingebunden in das kritische Protestformat.

Interessanterweise, so Nassehi weiter, spielen derlei Protestformen damit auch mit einer starken Infragestellung parlamentarischer, institutionalisierter und letztlich demokratischer Politik – sie reklamieren die Eins-zu-Eins-Umsetzung ihres Veränderungswillens und formulieren dabei Absolutheitsansprüche („Hört auf die Wissenschaft!“, „Wir sind das Volk!“), deren Umrisse letztlich inkompatibel sind zu bestehenden Strukturen. Keinesfalls endet damit aber die Ambivalenz von Protest, zumal diese anti-systemische Komponente auf lange Sicht Möglichkeiten und Korridore bietet, bestimmte Themen sukzessive in den Diskurs einzuspeisen – ihr Aufflammen in der Gegenwart stellt die handelnden Akteure aber immer vor das Problem der Thematisierung der geäußerten Kritik: Wird sie konkret aufgegriffen (Stichwort: „Wir müssen zuhören“), begibt man sich in die Gefahr, Absolutheitsansprüche und/oder diffuse Ängste als politisch legitime Interessen aufzuwerten, thematisiert man sie nicht, fungiert man gewissermaßen als Verstärker und sieht sich dem Vorwurf politischer Ignoranz und Entmündigung ausgesetzt.

Nassehis Text bietet von diesem Grundimpuls ausgehend ein weitreichendes Feld weiterer bedenkenswerter Fragen: Angedeutet ist von ihm die Steigerungslogik des Protests in seiner potenziellen Aufwertung und Integration gewalttätiger Elemente; zu fragen wäre auch nach den popkulturellen Erscheinungsweisen einer Form, die im Sinne spätmoderner Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit und Performanz wichtige Sogkräfte thematisiert. Letztere begreifen das Politische viel stärker als möglicherweise zuvor im Modus der Straßendemonstration. Dabei liegt zwischen dem Unterhaltungsinteresse und der Eventisierung von Protest („Ich war dabei!“) und der Gefahr manifester Gewalt im Bewusstsein, Protest „wieder auf die Straße zu tragen“ (auch verbunden mit der Frage der Mehrheitsverhältnisse), ein weites Spektrum.

Auch die institutionelle Gegenreaktion auf Protest scheint von besonderem Interesse zu sein: Zwischen der gruppenbezogenen Abwertung („Corona-Leugner“, „Impfgegner“, „Verschwörungstheoretiker“), dem Beharren darauf, doch bitte in institutionalisierten Bahnen zu protestieren, und dem übereifrigen und zuweilen ängstlichen „Wir müssen den Leuten endlich wieder zuhören!“ liegen auch hier Welten, die zu Interpretationen und neuen Deutungen einladen. Mit dieser Phänomenologie des Protests, die pointierte und anwendungsfähige Ansatzpunkte für gesellschaftliche Problemlagen und Konfliktkonstellationen bietet, macht Armin Nassehi einen wichtigen Aufschlag. Denkbar und lohnenswert wäre es sicherlich, diesen Spuren auf der Grundlage weiterer (vielleicht auch empirischer) Forschungen anzureichern in Richtung eines umfassenden gesellschaftstheoretischen Entwurfs – zumal viele der zentralen Einschnitte des bundesrepublikanischen Geschichte (exemplarisch sichtbar an der Finanzkrise 2008/2009, der „Flüchtlingskrise“ 2015 und der Corona-Pandemie 2020) von derlei Strömungen der Kritik und des Protests essentiell begleitet sind.

Titelbild

Armin Nassehi: Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests.
Kursbuch Kulturstiftung, Hamburg 2020.
160 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783961961283

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