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In seinem Buch „Letzte Erzählungen“ gibt William Trevor dem Rauschen des Alltags Gesichter und Geschichten

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

William Trevor verbrachte viele Stunden auf Parkbänken. Dort lauschte er Gesprächen seiner Nachbarn und entwickelte daraus Erzählungen. Er schrieb über den Alltag und die Sehnsüchte der Menschen – etwa von Lehrerinnen, Pensionisten und Hausfrauen. Seine Geschichten blicken in den Alltag unscheinbarer Figuren und streifen ihre Verluste und Narben.

1928 in der irischen Grafschaft Cork geboren, lebte und arbeitete Trevor im englischen Devon. Hier starb er im Alter von 88 Jahren. Neben seinen vielen Romanen waren es vor allem seine Kurzgeschichten, die seinen Namen immer wieder in Verbindung mit dem Nobelpreis brachten.

Im Jahr 2018 wurden Trevors Kurzgeschichten der letzten Jahre im Viking Verlag als Last Stories veröffentlicht. Nun, zwei Jahre später, ist die deutsche Ausgabe unter dem Titel Letzte Erzählungen beim Hamburger Verlag Hoffmann und Campeerschienen. Hans-Christian Oeser, der unlängst mit dem Straelener Übersetzungspreis ausgezeichnet wurde, ist es gelungen, die Mattheit von Trevors Geschichten ins Deutsche zu übertragen.

Es sind Erzählungen ohne Lärm, die das Unscheinbare beleuchten. So etwa in Der verkrüppelte Mann, in der es um einen Mann im Rollstuhl geht, der seit Jahren mit seiner entfernt verwandten Pflegerin Martina auf einem Gehöft lebt und nun zwei Männer engagiert, die Fassaden seines Bauernhofes zu streichen. Nach kurzer Zeit bemerken die Anstreicher: Hier liegt etwas in der Luft zwischen Martina und dem Kranken. Ist es Abneigung oder gar Hass? Es bleibt unklar. Nicht nur die Männer, auch die Leser/innen bleiben im Ungewissen. Doch eines Tages ist der Kranke nicht mehr da. Hat Martina ihn verschwinden lassen? Ist er geflohen? War es Mord? All diese Fragen stellen sich die beiden Männer. Doch das Ungesagte macht die Faszination der Erzählungen aus und auch die Einsicht, dass im Leben auch mal die ,Bösen‘ davonkommen:

Sie saß am längeren Hebel, denn sie brauchte nur nach ihm zu greifen. Sie würde dafür sorgen, dass die Rente weitergezahlt wurde. Den verkrüppelten Mann würde niemand vermissen, es besuchte ja niemand ein einsames Haus. Morgen würde die Frau sie für den Hausanstrich bezahlen. Morgen würden sie weiterziehen.

Auch in Im Caffè Daria hat man es mit dem Ungewissen zu tun: Jeden Vormittag trifft man hier die Verlagsgutachterin Anita Lyde an. Früher war sie Tänzerin gewesen, nun bearbeitet sie Manuskripte. Eines Tages sitzt ihr Claire gegenüber, eine Freundin vergangener Tage, deren Ehemann Gervaise verstorben ist. Der Mann, der einst Anitas Liebe und Zukunft war. Eine Reihe von Rückblenden und Augenblicke von Gegenwart führen den Leser/innen Anitas Seelenleben vor Augen. So schnell, wie sie gekommen ist, ist Claire auch wieder aus Anitas Leben verschwunden. Aber das Stechen ihrer Gegenwart bleibt als vergiftetes Geschenk übrig.

All die Reibungspunkte und Gemeinheiten einer Beziehung – egal ob zwischen Freunden oder Geliebten – arbeitet Trevor heraus. Dabei vergisst er auch nicht den bittersüßen Nachgeschmack dieser Verletzungen abzubilden. Obwohl Trevors Blick immer auch dem Zwischenmenschlichem gilt, bleibt seine Sprache kühl und trifft die Leser/innen doch mitten ins Herz:

Manchmal blickt sie auf, und da steht Claire, sie ist zurückgekommen, um für einen Moment Claire zu sein, bis sie wieder zu jemand anderem wird. Anitas Gruß, der bereits ihre Gesichtszüge belebt, ist weggewischt, und ihr bleibt nur, sich zu wundern und zu warten. Claire ist irgendwo.

Fehler, Missverständnisse und Reue ziehen sich durch alle Erzählungen. So etwas wie Glück oder Freude werden in diesen Geschichten zu Fallen. Jeder Anflug von Euphorie wird durch die Grenzen des Alltags beendet. So verfällt etwa die Klavierlehrerin Miss Nightingale in Der Schüler der Klavierlehrerin dem Können ihres Schülers. Die Freitagsstunde mit ihm wird zum Höhepunkt der Woche. Doch sie bemerkt, dass ihr Musterschüler jedes Mal etwas aus ihrem Haus mitgehen lässt. Die Freude wird zur Resignation, das Außergewöhnliche zum Alltag:

Sie wusste nicht, wie er es anstellte. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, sah aber nichts. Sie sagte auch nichts, und der Junge selbst war so ungerührt von dem, was vor sich ging, so unbeeindruckt von seinem eigenen Verhalten, dass sie sich zu fragen begann, ob sie erst jetzt das Fehlen von Dingen bemerkt hatte, die ihr über einen längeren Zeitraum entwendet worden waren. Doch nichts davon ergab Sinn, und ihre halbherzigen Ausflüchte zerfielen.

Trevor flüstert uns die Geschichten zu, überlässt der Melancholie und Enttäuschung seiner Figuren die Zeilen. Dem Ungesagten und Vergessenen kommen in diesen Erzählungen die Hauptrollen zu – sie durchziehen jedes Wort, jeden Absatz und jede Seite. Momentaufnahmen voller Leben, ohne Lärm, Fassaden und doppelte Böden sind es, die William Trevor in Letzte Erzählungen geschrieben hat. Es sind grandiose Geschichten.

Titelbild

William Trevor: Letzte Erzählungen.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
256 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455008289

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