Durch die Saugänge

Kai Wieland vermisst in „Zeit der Wildschweine“ die Welt zwischen Somewhere und Anywhere

Von Pascal MathéusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pascal Mathéus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Atmosphärisch befindet sich Kai Wielands zweiter Roman Zeit der Wildschweine irgendwo auf der Skala zwischen Michel Houellebecq und Reinhard Kaiser-Mühlecker. Der lethargische Zynismus des französischen Starschriftstellers trifft sich mit der fiebernden Melancholie, die die Dorfromane des Österreichers ausmachen. Wielands Hauptfigur Leon verspürt eine „unersättliche Gier nach nichts“. Seine nervöse Antriebslosigkeit sieht sich mit einer Welt konfrontiert, die allerorts im Niedergang begriffen ist. Hier altern die Väter, dort sterben ganze Dörfer aus.

Dort ist in diesem Fall tatsächlich Frankreich, genauer gesagt der äußerste Norden des Landes, die Region um Dünkirchen, wo Industriebrachen und verödete Landschaften das Bild prägen. Hier ist Schwaben, woher die Hauptfigur stammt, und noch genauer das Dorf, in dem ihr Elternhaus steht. In dieses zieht Leon zurück, weil sein verwitweter Vater für die vielen Zimmer zu alt geworden ist. Als Autor von Reiseführern ist Leon normalerweise in der ganzen Welt unterwegs – der Grundkonflikt des Romans wäre damit etabliert.

Die grundverschiedenen Lebenswelten von Somewheres und Anywheres werden häufig als Ursache für die ideologischen Grabenkämpfe genannt, die im Moment die gesellschaftliche Auseinandersetzung prägen. Dieses Thema hat sich Wieland offensichtlich für seinen Roman gewählt. Es kommt prägnant zum Ausdruck, als Leon die Dynamik in den Gesprächen zwischen ihm und seinem Vater beschreibt: „Er beanspruchte für sich das Meinungsmonopol auf die Heimat, ich jenes auf die Welt.“ Leider ist es für den Roman typisch, dass die Reflexion explizit gemacht wird, statt sie dem Leser zu überlassen. Die Dialoge selbst sind nämlich nicht ausdrucksstark genug, um die in sie hineingelegten Konflikte aus sich heraus verständlich zu machen.

Dies gilt auch für Leons zweite Beziehung, mit der die Handlung des Romans auf einigermaßen umständliche Weise in Gang gebracht wird. Im ersten Kapitel trifft er in seinem Boxclub auf den seltsamen, am ganzen Körper mit Filmzitaten tätowierten Janko, der explizit als Tyler-Durden-Figur eingeführt wird. Wie im Film Fight Club wird sich diese Begegnung als schicksalshaft herausstellen. Als Leon erfährt, dass Janko Fotograf ist, bittet er ihn, ihn auf seine nächste Dienstreise in den französischen Norden zu begleiten, um die Fotos für den Reiseführer zu schießen, mit dem man ihn beauftragt hat. Die Reise der zwei Männer bildet den zweiten Handlungsstrang des Romans, der mit den Ereignissen um das heimatliche Haus nicht ohne Kunstfertigkeit verschränkt wird.

Die Umrisse der Janko-Figur kommen einem bekannt vor. Der eigenartige, etwas schmuddelige, etwas brutale Osteuropäer, der die Hauptfigur mit seiner Andersartigkeit in Staunen versetzt, sodass ein Schein von Weisheit auf ihn fällt, gehört offenbar zum Standardinventar der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zu denken sei an Tschick aus Wolfgang Herrndorfs gleichnamigem Jugendroman oder zuletzt an Veltko, der die weibliche Hauptfigur in Leona Stahlmanns Debütroman Der Defekt in die Welt des Sadomaso einführt.

Tschick war dabei jedoch um einiges lebendiger als seine Epigonen. Während Herrndorf seine Figur mit einem Eigensinn ausgestattet hat, der sich auch in ihrer Sprache niederschlug („Übertrieben geile Jacke“), bekommt Jankos Idiom lediglich dadurch Charakter, dass er Leon immer wieder mit „Bruder“ anspricht. Ansonsten setzt sich sein Bild weniger durch seine eigene Sprache als durch die detaillierten Beschreibungen seines Äußeren zusammen. Die mit Leon geführten Dialoge bleiben dagegen ärgerlich blutleer („‚Und? Ist es nicht das, worüber du schreiben willst?‘ […] ‚Ich weiß nicht‘, antwortete ich wahrheitsgemäß“).

Potential scheint auf, insofern das Buch Züge eines Generationen-Romans trägt. Dass die Millennials eine eigenartige Zwischenposition zwischen Digital Natives und Digital Immigrants einnehmen, klingt in der folgenden Passage an: „Als Teil der vielleicht letzten Generation, die noch unter der 20.15-Uhr-Doktrin aufgewachsen war, empfand ich es selbst an verlorenen Tagen als Kapitulation vor dem Müßiggang, wenn vor acht Uhr abends der Fernseher lief, mit der Sportschau als einziger legitimen Ausnahme.“ Noch eine Ahnung von der alten Ordnung zu haben, die in Zeiten von Streaming-Plattformen, Smartphones und Social Media explodiert ist, sodass viele im Nachrichten- und Unterhaltungsangebot verloren zu gehen drohen, macht den Standpunkt dieser Generation zu etwas Besonderem. Es würde lohnen, dem weiter nachzugehen.

Wielands Buch schöpft dieses Potential jedoch nicht aus. Stattdessen mutet er dem Roman und seinen Lesern mit etlichen weiteren, ebenfalls nicht zu Ende geführten Motiven zu viel zu. Natürlich kommt in Dünkirchen der Zweite Weltkrieg ins Spiel. Die Dreharbeiten für den Film von Christopher Nolan laufen gerade, als sich Leon und Janko in der Gegend aufhalten. Dadurch rückt das Verhältnis von Realität und Fiktion in den Fokus, das wiederum in Beziehung gesetzt wird zu den unterschiedlichen Formen ihrer Repräsentation, die durch Jankos Fotografie und Leons Reiseschriftstellerei vertreten werden. Eine merkwürdige Frau, die als Künstlerin ebenfalls am prekären Gewebe von Sein und Schein strickt und ein leidenschaftlicher Cineast komplettieren das Ensemble des Romans. In ihren Gesprächen mit Leon geht es genauso um alles und nichts wie in den Dialogen, die die Hauptfigur mit ihrer Schwester und ihrem Nachbarn führt. Die Ziellosigkeit erschwert es dem Leser erheblich, bei der Stange zu bleiben.

Dass Wieland seinem gut gewählten, weil äußerst spannenden Thema am Ende nicht gerecht wird, entlarvt sich in der einen oder anderen Banalität, die der Hauptfigur als Räsonnement untergeschoben wird: „Egal, wohin du gehst, dachte ich, die Menschen verstehen ihre Welt nicht mehr.“ Der Autor hat diese Unzulänglichkeiten wohl selbst gespürt, wenn er Leon an anderer Stelle fragen lässt: „Oder ist das wieder Kitsch?“

Titelbild

Kai Wieland: Zeit der Wildschweine. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608982251

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