Vom Unglück, in die falsche Familie geboren zu sein

Gewagt, aber gelungen: Alexi Zentner zeichnet in „Eine Farbe zwischen Liebe und Hass“ einen jugendlichen Underdog aus rassistischem Umfeld als tragischen Helden.

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jessup ist 17 und lebt in der kleinen Stadt Cortaca in Upstate New York, die schon bessere Tage gesehen hat. Denn fast alle der großen Firmen, die hier angesiedelt waren, haben dichtgemacht. Dort, wo es noch Arbeit gibt, sind die Jobs prekär, die Löhne niedrig. Allein die renommierte Ivy-League-Uni sorgt dafür, dass die Stadt nicht vor die Hunde geht. Doch Leute wie Jessup gehören nicht zu den Privilegierten, die dort studieren können. Schließlich hängt in den USA eine gute Ausbildung vor allem von den notwendigen Finanzen und dem „richtigen“ familiären Hintergrund ab. Jessup dagegen gehört zum so genannten „White Trash“. Mit seiner Familie lebt er außerhalb der Stadt im Trailer Park, sein Stiefvater und sein Bruder Ricky arbeiten als Klempner, während die Mutter schwarz putzen geht. Und er erlebt tagtäglich am eigenen Leib, dass der „amerikanische Traum nichts für jedermann ist, sondern eine Art Geburtsrecht“.

Obwohl er ein leistungsstarker Spieler in der Footballmannschaft ist, gerne liest und sich rührend um seine kleine Schwester kümmert, glaubt kaum jemand, dass er ein guter Kerl ist. So muss er trotz seiner Intelligenz mühsam um gute Noten kämpfen. Schuld daran ist auch das Stigma, aus einer „Nazi-Familie“ zu stammen. Sein Bruder und sein Stiefvater, die nicht nur Tattoos mit NS-Symbolen tragen, sondern auch beide in der „Heiligen Kirche des Weißen Amerika“ aktiv sind, sitzen nämlich wegen eines Tötungsdelikts an zwei schwarzen Studenten im Knast. Für Jessups Familie stellt sich der Vorfall als Notwehr dar, während Politik und Öffentlichkeit darin ein „Hate Crime“ aus rassistischen Motiven sehen. Diese Sichtweise unterstützt ein Tatortvideo, sodass beide hinter Gitter müssen. Während Ricky als Haupttäter noch viele Jahre vor sich hat, darf der Stiefvater nach mehreren Jahren auf Bewährung raus.

So könnte sich für Jessup eigentlich alles zum Besseren wenden, hat er doch auch Aussichten auf ein College-Stipendium und eine heimliche Freundin: Deanne, die Tochter seines schwarzen Footballcoaches, den er verehrt. Doch genau der Tag, an dem sein Stiefvater heimkommt, wird für Jessup zum Wendepunkt in seinem Leben. Nach einem siegreichen Footballspiel wird er während einer Party in den tödlichen Unfall eines schwarzen Spielers der gegnerischen Mannschaft verwickelt. Überzeugt, dass niemand an seine Unschuld glauben wird, beschließt er, das Geschehen zu vertuschen und setzt damit eine fatale Kette von Ereignissen in Gang. Schon bald muss er sich der Frage stellen, ob es möglich ist, sich seiner Verantwortung zu entziehen – und ob Liebe oder Hass sein Leben bestimmen wird …

Autor Alexi Zentner wuchs selbst in Upstate New York auf, wo Neonazis gleich zweimal Brandanschläge auf sein Zuhause verübten. – Beide Eltern sind politisch liberale Aktivisten, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzen. Mit Eine Farbe zwischen Liebe und Hass vollzieht Zentner die literarische Verarbeitung der Ereignisse von damals. Sensibel und klug setzt er der Gewalt und dem Hass die Fähigkeit entgegen, sich in einen Menschen einzufühlen, der „auf der anderen Seite“ groß geworden ist. Und so stellt er – gerade angesichts der Zerrissenheit des heutigen Amerikas ebenso drängende wie komplexe Fragen: Wird man automatisch Rassist, wenn man in einem hasserfüllten Umfeld aufwächst? Kann man loyal zu seiner Familie sein und sie lieben, obwohl man deren Überzeugungen für grundfalsch hält? Wie würde jeder von uns sich in Jessups moralischer Zwickmühle verhalten?

Ebenso komplex wie die Fragen, die Zentner in seinem Buch aufwirft, sind die Figuren, die er darin entwickelt. Sowohl Jessup als auch die anderen Protagonisten werden als vielschichtige, mitunter widersprüchliche Charaktere gezeichnet. Sprachlich versiert erzählt, entwickelt der Roman von Beginn an ein mitreißendes Tempo, das den Leser bis zum Ende in seinen Bann zieht.

Der größte Pluspunkt des Buches ist Zentners differenzierte Darstellung, mit der er den Finger in die gesellschaftlichen Wunden der US-Gesellschaft legt. Er zeigt auf, dass es neben der „Rassen“- auch die Klassenzugehörigkeit ist, die das Leben im vermeintlich freien und gleichen Amerika prägen. Dabei diente der Rassismus stets als vorzügliches Vehikel, um Ungleichheit zu verschleiern, gegenseitige Solidarität zu verhindern und die bestehenden Unrechtsverhältnisse aufrechtzuerhalten.

Zentner ist mit diesem Roman nicht nur ein packendes Familienporträt und eine sensible Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch eine treffende Kritik am undurchlässigen Gesellschaftsmodell der USA gelungen. Lesenswert, auch wenn das allzu plakative Cover dem Buch nicht guttut.

Titelbild

Alexi Zentner: Eine Farbe zwischen Liebe und Hass. Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
377 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518469965

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