Im Dunkeln verloren

Antonio Moresco überschreitet in „Das kleine Licht“ die Grenzen zwischen Leben und Tod

Von Ruth HainsonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Hainson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Rande der Zivilisation lebt der namenlose Ich-Erzähler im Wald eines verlassenen Dorfes, allein. Bei Spaziergängen und genauen Beobachtungen verfolgt er die Intensität der Lebhaftigkeit der Natur. Eines Nachts erkennt er inmitten von Bergen ein kleines Licht, das ihn auf die Suche nach dessen Ursprung veranlasst. Nach einigen Nachforschungen im Wald und bei Bewohnern des nächstgelegenen Dorfes, beschließt er, zu dem Licht selbst aufzubrechen. Es stellt sich heraus, dass ein kleiner Junge, ebenfalls allein, in einem Haus wohnt und abends das Licht anlässt, da er sich im Dunkeln fürchtet. Er erfährt zudem, dass der kleine Junge tot ist, was ihn jedoch nicht davon abhält, ihn weiterhin zu besuchen und sich allmählich einer sonderbaren Verbundenheit anzunähern.

Das kleine Licht, im italienischen Original La Lucina, wurde bereits im Jahre 2013 veröffentlicht  erst im Februar 2020 erschien die deutsche Übersetzung von Sabine Schneider im Septime-Verlag  und hinterließ in Italien und Frankreich besonderen Eindruck. Entstanden ist das Werk aus einer kleinen Szene, die sich in Antonio Morescos 2015 erschienenem Roman Gli Increati hätte befinden sollen. Jedoch habe sich die besagte Szene in ein eigenständiges Werk entwickelt – wie der Autor im Vorwort als Briefform an seinen italienischen Verleger erklärt. Aufgrund der Intimität und Innerlichkeit habe sein einundzwanzigstes Werk den Charakter einer Hinterlassenschaft und verleihe ihm somit ein persönliches Verhältnis.

Antonio Moresco feierte 1993 mit 46 Jahren sein Debüt, wobei er sich die Veröffentlichung von Clandestinità zwanzig Jahre erkämpfen musste. Der Autor spricht in seinen Werken mehrfach die Auseinandersetzung mit dem Tod und die Überlebenschancen des Menschen in einem digitalen Zeitalter an. Zu dem Roman erschien 2018 eine Verfilmung – la lucina - von Fabio Badolato und Jonny Costantino, mit Antonio Moresco in der Hauptrolle. Die Dreharbeiten fanden in Süditaliens Sant’Arcangelo statt.

In dem knapp 150 Seiten langen Roman beschäftigt sich Moresco mit dem natürlichen Kreislauf von Leben und Tod bei Mensch und Natur. Dabei entwirft er verstrickte Gedankengänge des Ich-Erzählers, die sich einerseits realistisch bis ins kleinste Detail zerstreuen und tiefsinnigen Wert erhalten. Dennoch bleibt die Atmosphäre des Geschehens und der Beziehung der Figuren rätselhaft und ungreifbar, gar traumhaft. Ohne stilistische Feinheiten und verschönerte, dafür sonderbare Sprache, bringt Moresco den tiefgründigen, gar philosophischen Schatten seiner Komposition hervor.

Heute Morgen Regen, Hagel, Wind. Unmöglich, dort hinzufahren. Ich habe diesem Weltuntergang aus Wasser und Eis, der da mit aller Gewalt vom Himmel niederging, lange Zeit zugesehen. Der Wind wütete, die Schindeln flogen, große, zugespitzte Hagelkörner schlugen an die Fensterscheiben, dass sie fast zersprangen. Ich habe die Fensterläden schließen und mich dabei ein wenig hinauslehnen müssen, währenddessen trafen mich diese harten, eisigen Geschosse und verletzten mich an Händen, Armen und Kopf.

Als ich nach draußen gehen konnte, deckten die Eisstücke alles zu. Ich habe die Leiter genommen und bin auf das Dach gestiegen, um die Schindeln wieder zu richten. Ich bin ein wenig durch die Ortschaft gegangen, bin stehen geblieben, um Blumen zu betrachten, die hier und da gewachsen waren und nun alle niedergerissen und zerstückelt dalagen. Auch die drei weißen Lilien, die in einem mit Erde gefüllten Kochtopf vor einer Steintreppe blühen und deren Blüte ich mit banger Unruhe verfolgt habe, sodass ich jeden Tag vor ihnen stehen geblieben bin, um ihre frisch geöffneten Blütenkelche zu betrachten und zu beschnuppern.

Die verstrickten Gedankengänge in langen Sätzen, die sich über eine halbe Seite ausbreiten können, und die Syntax machen es nicht leicht, diesen literarischen Text schnell und stetig zu lesen. Daneben weist die Übersetzerin Sabine Schneider, die sich mit Morescos Literatur seit über zwanzig Jahren beschäftigt, im Nachwort auf die Komplexität der Sprache hin. Der Roman verwende größtenteils das Perfekt und habe nicht den üblichen Zeitgebrauch von Präsens und Präteritum, die zumeist in italienischer Literatur zu finden sind. Auch in deutschsprachigen literarischen Texten ist dieser Tempus-Gebrauch selten zu finden. Und doch wagt sich die Übersetzerin, das Künstlerisch-philosophische der Ursprungssprache ins Deutsche zu transportieren. Sie wendet sich bewusst an eine am Ursprungstext orientierte Übersetzung, hält jedoch der entscheidenden Lese-Beeinträchtigung des Rezipienten Schritt.

Somit fordert Das kleine Licht seinen Leser dazu auf, sich aufmerksam mit der Erzählung zu beschäftigen. Trotz der Komplexität umfängt den Roman eine sanfte, fast meditative Stille. Dabei wirkt sie auf den nicht zu fassenden Druck der menschlichen Existenz mit einer melancholischen Vertrautheit ein, die eine Berührung der engen Grenze zwischen Leben und Tod auflöst.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2020 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2020 erscheinen.

Titelbild

Antonio Moresco: Das kleine Licht.
Aus dem Italienischen von Sabine Schneider.
Septime Verlag, Wien 2020.
160 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783902711908

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