Vom Trauma der ältesten Amerikaner

In seinem Debütroman „Dort dort“ erzählt Tommy Orange die Geschichten von zwölf Native Americans, die bei einem schicksalshaften Powwow in Oakland aufeinandertreffen

Von Gwendolin KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gwendolin Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tony dealt seit er dreizehn ist und hat fetales Alkoholsyndrom, weil seine Mutter während der Schwangerschaft die Finger nicht vom Whiskey lassen konnte. Dene irrt durch Oakland und versucht die Projektidee seines toten Onkels, eine Dokumentation über das Leben urbaner Native Americans, zu verwirklichen. Jacquie wurde als Teenagerin bei der Besetzung von Alcatraz vergewaltigt und kämpft seitdem mit Alkoholismus, arbeitet aber gleichzeitig als Drogenbeauftragte in einem Reservat. Edwins Leben ist nach seinem Komparatistikmaster von Internetsucht und Selbstwertproblemen wegen Übergewichts und Arbeitslosigkeit geprägt. Sie alle treffen beim Great Oakland Powwow, einer Art Kulturfest amerikanischer Natives, aufeinander.

In Tommy Oranges Pulitzer-Preis-nominiertem Debütroman und New York Times Bestseller Dort dort werden die Geschichten von zwölf Native Americans erzählt, die allesamt auf ihre Weise versuchen, mit generationenübergreifendem Trauma und dem, was damit zusammenhängt, umzugehen – Gewalt, Drogensucht, Selbstmorde und Verlassen-Werden. Auch verbindet alle die Frage nach kultureller Identität in einer Zeit, in der es sie in die Städte zieht und die Perspektiven auf das eigene Native-Sein immer unterschiedlicher werden; Blue ist als Adoptivkind bei weißen Eltern aufgewachsen, Edwin kennt seinen Cheyenne-Vater nicht, Dene wird ständig für einen Weißen gehalten, Orvil, Loother und Lony wussten die längste Zeit gar nicht, dass sie Natives sind, weil ihre Großtante und Adoptivmutter Opal die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur als Privileg sieht, das sie sich nicht leisten können.

Tommy Orange ist selbst Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes und stammt, wie die meisten seiner Protagonist:innen, aus Oakland. So klingen die Worte, die Dene anfangs des Romans vor einer Jury sagt, die über ein Stipendium für seine Dokumentation entscheidet, ein bisschen wie die Prämisse des Buches:

Die Geschichte der urbanen Indianer haben wir noch nicht gesehen. Und alles, was wir schon gesehen haben, ist voll von Klischees, die überhaupt erst der Grund dafür sind, dass sich keiner für die Geschichte der Natives interessiert, sie ist zu traurig, so traurig, dass sie nicht mal mehr unterhaltsam sein kann, aber vor allem sieht sie erbärmlich aus, wie sie bisher dargestellt wurde […], [aber] das Gesamtbild ist nun mal nicht erbärmlich, und auch die einzelnen Menschen und ihre Geschichten sind weder erbärmlich noch schwach, noch bemitleidenswert, denn sie zeigen wahre Leidenschaft und Wut, und genau das bringe ich auch selbst in das Projekt ein […].

Tatsächlich ist Dort dort aber sehr viel mehr als eine Ansammlung von authentischen Geschichten: Der in vier Teilen – Bleiben, Zurückfordern, Heimkehren, Powwow – erzählte Roman verbindet die Einzelgeschichte mit der Gesamthistorie und die zunächst parallel nebeneinander herlaufenden Stränge Stück für Stück miteinander. Aus den einzelnen, in der ersten, zweiten und dritten Person erzählten Kapiteln, deren Chronologie oft leicht versetzt mit der der übergeordneten Ebene ist, spannt sich nach und nach ein kunstvoll konstruiertes Netz.

Und hier liegt auch der eigentlich zentrale Kunstgriff des Romans: Mit der Metaphorik der Spinne und ihres Netzes greifen die Struktur und ein Leitmotiv des Buches ineinander. Die Spinne taucht als Motiv beispielsweise auf, wenn Orvil Beine einer solchen aus einer Beule an seinem Knie zieht oder wenn Opals Mutter ihr erzählt, „Spinnen trügen meilenweise Netz in ihren Körpern, meilenweise Geschichte, meilenweise potenzielles Zuhause und potenzielle Falle.“ Das Netz als gleichzeitiges Zuhause und Falle erinnert an Oakland, bzw. auch an ganz Amerika. Die Spinne, die meilenweise Geschichte in sich trägt, an die Native Americans – gleichzeitig bedeutet das Cheyenne-Wort „Veho“ sowohl Spinne als auch Betrüger und weißer Mann.

Das Spinnennetz verkörpert aber eben auch die Struktur des Romans: Die einzelnen Erzählstränge starten wie seine Fäden zunächst weit voneinander entfernt, laufen aber auf den gleichen Punkt zu, es ergeben sich Verknüpfungen. Die Ringe werden immer enger und enger, so wie die Kapitel und selbst die Sätze kürzer und kürzer werden – im letzten Teil bestehen erstere häufig nur noch aus einer Seite.

Der Titel des Buches, im Original There there, scheint im ersten Moment horrend übersetzt („there, there“ ist im Englischen eine tröstende Phrase, etwas, das man sagen würde, wenn man einem weinenden Kind mitleidig über den Kopf streicht; dazu kommt noch, dass bereits innerhalb der ersten paar Seiten das gleichnamige Lied von Radiohead erwähnt wird), trifft es aber – wie die Übersetzung von Hannes Meyer im Übrigen auch sonst – eigentlich auf den Punkt. Er bezieht sich primär auf eine Aussage von Gertrude Stein über ihre Heimatstadt Oakland, „there is no there, there“, in dem Sinne, dass die Stadt sich so stark verändert habe, dass es den Ort ihrer Kindheit nicht mehr gebe. Das lässt sich nun einerseits relativ offensichtlich als Analogie auf den gesamten amerikanischen Kontinent aus der Perspektive der Natives lesen, andererseits verdeutlicht die Auslassung der Negation, was Tommy Orange in dem Buch so grandios gelingt: Zu zeigen, dass die Geschichte der Natives nicht vorbei ist, nicht in einem vergangenen ‚Dort‘ liegt. Dass es sehr wohl noch ein ‚Dort dort‘ gibt.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2020 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2020 erscheinen.

Titelbild

Tommy Orange: Dort dort. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hannes Meyer.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
284 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446264137

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