Meine Neurose scheint jede Analyse zu verhindern

Hermann Brochs "Psychische Selbstbiographie"

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Jahren 1941 bis 1943, das heißt in der Zeit seines amerikanischen Exils, schrieb der Romancier und Kulturkritiker Hermann Broch, jeweils im Jahresabstand, drei Texte, in denen man so ziemlich alles vermißt, was klassische (Auto-)Biographien zu vermitteln suchen: Skizziert wird ein psychischer Mechanismus, dessen Kenntnis den Leser in die Lage versetzen soll zu begreifen, weshalb sein Leben so und nicht anders verlaufen ist.

Der erste Dokument, "Autobiographie als Arbeitsprogramm" von 1941, will lediglich "die Geschichte eines Problems" (des ethischen Relativismus) erzählen. Es befaßt sich mit Brochs werttheoretischen Studien der zwanziger Jahre - die er zum Teil als "metapolitische Arbeiten" verstand - und den Themen Demokratie und Menschenrechte. Von seinem Innenleben erfährt der Leser allerdings nichts.

Das Gegenteil davon ist das zweite autoanalytische Schriftstück ("Psychische Selbstbiographie"), das er als Briefanlagen an zwei Freundinnen (Ruth Norden und Annemarie Meier-Graefe) schickte, mit denen er damals parallele "ambivalente Verhältnisse" hatte. Es entstand 1942/43 und war - wie der dazugehörende "Nachtrag" - bislang unveröffentlicht. In der "psychologischen Meta-Erzählung" zu Brochs privatem Leben entdeckt sich ein "Ich", das sich einem geradezu neurotischen Arbeits- und Leistungszwang - auch im Erotischen "mithilfe großen Frauenverbrauches" - gegenübersieht, der "keinen Platz" mehr läßt für das "sogenannte Leben". Im Drang seiner Geschäft(igkeit)e(n), die nur Zufallsbindungen zulassen, sieht der "Autoanalytiker" Hermann Broch keinen anderen Ausweg, "als seine immerhin vorhandene Sinnlichkeit zu Huren zu tragen". Was ihn freilich nicht daran gehindert hat, auf ein "Liebeswunder" zu hoffen und seine Idee von der "Idealfrau" zu entwickeln, von der allein er die "Erlösung zur Normalität" erwartete. Seine Fragmente einer Sprache der Liebe sind allerdings völlig blutleer, etwa wenn er von ihrem Wunder "Rentabilität" der "gemachten Investitionen" erhofft. Im Zentrum der Skizze zu einer Selbstanalyse steht die Vorstellung einer "imaginierten Impotenz", die Hermann Broch mit seiner "Aufspaltung" in Verbindung bringt. So glaubt er, daß sein "fürchterliches Inferioritätsgefühl" aus einer Niederlage in der frühen Kindheit entstanden ist. Ein Erlebnis hält er neben der Entdeckung des "Ich" für besonders prägend: die verweigerte "mütterliche Liebe", die ihn gegenüber Vater und Bruder als Un-Mann erscheinen ließ. Es versteht sich, daß sich diese unerträgliche Eifersuchtshaltung, die ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet hat, auch in seinem "Verkehr" mit Nebenmenschen ausdrückte (nur mit großer Mühe konnte er seine Scheu und Schüchternheit überwinden). In diesem Zusammenhang hält er auch einen starken Bezug zur Psychoanalyse aufrecht, wie man an seinem Vokabular (z.B. Ich, Über-Ich, Es, Unbewußtes, Neurose) erkennen kann. Der Name "Freud", dessen Schule er verpflichtet und mit dessen Werken er vertraut war (eine Auflistung findet sich im Anmerkungsteil), findet hier allerdings keine Erwähnung. Nach der Psychoanalyse sollten sich hinter (Versagens-)Ängsten bestimmte Erfahrungen verbergen, ein Trauma, etwas Verdrängtes, aber durchaus auch Konkretes. Kamen die "Verbiegungen der seelischen Funktionen" an die Oberfläche, sollten der Zauber gebrochen und das Leiden geheilt sein. Mit der technischen Selbstverständlichkeit der Psychoanalyse und ihrer klinischen Praxis hat Broch, der vor seiner Emigration bei Hedwig Schaxel-Hoffer und während des Exils bei Paul Federn in Behandlung war, im Alter von 55 Jahren allerdings wenig im Sinn, weil man sich mit seinen Neurosen auch aufs Verzichten bereits "eingerichtet" habe. Die Behandlung könne nur dann noch Erfolg haben, wenn Hoffnung auf "Auffindung eines gemeinsamen Nenners" für die neurotischen Erscheinungen bestehe. Trotz des Eingeständnisses, daß ihm die Psychoanalyse bisher wenig geholfen hat, verdankt er ihr tiefe Einsichten in seinen Seelenmechanismus, um deren "Einheitlichkeit" respektive "Komplexheit" es ihm zeitlebens in Dichtung und Wahrheit gegangen ist.

Eines aber bleibt rätselhaft: Broch betont, wo er nur kann, daß eine Reihe körperlicher Strafmaßnahmen, von denen schwerwiegende Arbeitsbeeinträchtigungen ausgehen (etwa die seiner Darmneurose), hier vernachlässigt werden soll. Andererseits spricht er in geradezu inflationärem Maße von "erniedrigenden" oder "ekelhaften" "spasmischen Darmkrämpfen" und "Darminsuffizienzen", so im "Nachtrag zu meiner psychischen Selbstbiographie" (1943), in der er wiederholt betont, daß er für die Dauer einer erfolgreichen Analyse jede Frauenbeziehung und jede Arbeit "ausschalten" müsse. Das würde geradewegs in die Panik führen. "Paradox und grotesk ausgedrückt: meine Neurose scheint jede Analyse zu verhindern." Broch nimmt in seinen letzten Lebensjahren zwangsläufig eine Position ein, die sich mit einer verläßlichen Praxis, wie die Psychoanalyse sie sein will, nicht vereinbaren läßt. Noch im Jahr der Entstehung der "Nachschrift", am 11. November, schreibt er in einem Brief an Hans Sahl, daß Analyse nicht das "Um und Auf der Psychologie ist [...], so wenig, wie Soziologie lediglich aus Marxismus aufgebaut werden darf." Weder das eine noch das andere hätte Anspruch auf "Weltanschauung".

Das Nachwort von Paul Michael Lützeler, "Donquijuanjote: Hermann Broch über sich selbst", ist sehr nüchtern und unspektakulär, aber gerade deshalb überzeugend. Sehr ausführlich wird auf Brochs "distanzloses Verhältnis" zur Psychoanalyse in den ersten beiden Abschnitten verwiesen. Vielleicht hätte man die Ausführungen noch um ein wichtiges Zitat ergänzen können. Denn der Tod Freuds war für ihn ein Symbol (an René A. Spitz, 15.10.1939): "nicht für den Untergang einer alten Welt, der er angehört hat, sondern für den einer neuen, der unseren Wünschen entsprochen hätte". An deren Kommen, heißt es nur einen Tag später an Stefan Zweig, könne er nicht mehr glauben.

Man darf das Buch nicht als letzte Aufklärung über das Wesen eines Dichters lesen, den sein neurotisch "hypertrophiertes Über-Ich" daran hinderte, sein poetisches Talent ungehemmt zu entfalten. Vielmehr kann es dazu beitragen, daß sich die "Geheimnisse" seiner bemerkenswerten Arbeiten aus der Exilzeit, die mit den Romanen "Der Tod des Vergil" und "Die Schuldlosen", seiner "Massenwahntheorie" und der kulturhistorischen Studie "Hofmannsthal und seine Zeit" vorliegen, in ungetrübter Schönheit "offenbaren".

Titelbild

Hermann Broch: Psychische Selbstbiographie. Hrsg. v. Lützeler, Paul Michael.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
213 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3518410350

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