Diverses ohne Herrschaft

Danielle Allens umständliche Reflektionen über „Politische Gleichheit“ lesen sich eher wie ein Sammelsurium denn als erhellende Theorie

Von Arne KoltermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arne Koltermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob es in einer Gesellschaft gerecht zugeht, das ist laut dem amerikanischen Philosophen John Rawls nach dem Differenzprinzip zu bestimmen: Danach sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu regeln, dass sie den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen. So weit, so abstrakt. Ferner soll man sich bei der Beurteilung von Gerechtigkeit hinter einen Schleier des Nichtwissens (Veil of Ignorance) begeben, um sich von gesellschaftlichen, äußerlichen oder einen Menschen sonst wie konkretisierenden Merkmalen nicht fehlleiten zu lassen – vergleichbar mit Justitia, deren Augen bei der Gerechtigkeitsfindung mit einer Binde verdeckt sind. Dabei besteht natürlich leicht die Gefahr, auch vor gesellschaftlichen Bedingungen die Augen zu verschließen.

Danielle Allen arbeitet sich in ihrem bei Suhrkamp erschienenen Buch Politische Gleichheit, das auf ihren Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2017 basiert, ausführlich an John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit ab. Vom Utilitarismus, für den der größtmögliche Nutzen in Form von Glück und Lust für die größte Zahl der Betroffenen ethisch entscheidet, grenzte Rawls sich zwar ab. Doch Allen, die in Harvard lehrt und jenseits der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auch regelmäßig in der Washington Post schreibt, wirft Rawls vor, dem Utilitarismus in seinen Rechenoperationen näherzustehen als er sich eingestand.

Was aber hat Gerechtigkeit nun mit Gleichheit zu tun? Für Allen sind beide Begriffe eng verknüpft, Rawls (der 2002 starb) richte sich einseitig an Verteilungsgerechtigkeit aus. Kurz gesagt: Er untersucht, ob die Rechnung am Ende stimmt, ohne sich für den Weg dorthin zu interessieren. Dabei warnt die Theoretikerin eindringlich davor, die von ihr als umfassende Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen verstandene politische Gleichheit zugunsten ökonomischen Ausgleichs zu vernachlässigen. Sie weist auf die schon von Benjamin Constant entwickelten Unterscheidungen zwischen „den Rechten der Alten“ (positiven Freiheiten, die auf gesellschaftliche Beteiligung gerichtet sind, also politische Rechte) und „den Rechten der Heutigen/Modernen“ (die auf das Recht des Einzelnen zielen, unbehelligt nach eigenem Gutdünken zu leben) hin. Wiederum wirft sie Rawls vor, er habe negative und positive Rechte nur vorgeblich versöhnt, die politischen Rechte seien bei ihm entbehrlich.

Allen setzt dem Differenzprinzip das Konzept der „Differenz ohne Herrschaft“ entgegen. Ihr Ziel ist eine „gehaltvollere Auffassung von politischer Gleichheit.“ Ihr Buch bemühe sich darum, „den Grundstein für eine Neuorganisation der politischen Debatten über den Wert von politischer Gleichheit zu legen.“ Dieses kühne Vorhaben findet in Allens von Satz-Ungetümen dominiertem Stil kaum Entsprechung. Obwohl es sich um ewige Fragen der politischen Philosophie handelt, nähert sich die Autorin ihnen mit dem salbungsvollen Technokraten-Sprech eines Parteiprogramms. 

Immer wieder kommt sie auf etwas zurück, was sie dem Leser angeblich „schon oben gezeigt“ habe. Was heißt es, „eine Assoziationsökologie, welche das Bauen von Brücken maximiert“, solle „egalitäre Effekte mit sich bringen und so die Wahrscheinlichkeit minimieren, dass soziale Differenz sich mit Herrschaft verbindet“? Dafür, dass sie mit Differenz ohne Herrschaft eine Art Stein der Weisen für die Bewertung politischer Gleichheit gefunden zu haben meint, bleibt der Begriff der Herrschaft seltsam leer und als Übel gesetzt. Aber er wird nicht hinterfragt, obwohl er doch in fast allen politischen Systemen eine Rolle spielt. Das verwundert umso mehr, als es sich um eine Adorno-Vorlesung handelt und die Frankfurter Schule sich immer wieder damit auseinandergesetzt hat.

Es mag durchaus im Sinne Allens sein, dass die Übersetzerin Christine Pries ihre „Domination“ als „Herrschaft“ ins Deutsche überträgt. Aber der deutsche Begriff ist umfassender und eben nicht einseitig negativ besetzt. Das führt im Ergebnis dazu, dass ihre die Herrschaft betreffenden Ausführungen hierzulande vermutlich kategorischer klingen als sie gemeint sind. Denn es gibt auch den Herrschafts-Begriff im Sinne der „Rule of Law“, der Herrschaft des Rechts. Hier aber klingt Herrschaft stets nach Unterdrückung, nach einem Ausboten des einen zugunsten eines anderen. Doch wie kommen Menschen zu ihren Rechten?

Allens affirmativer Ansatz zeigt sich auch beim Begriff der Vertragsfreiheit, den sie wie sämtliche sonst auftauchende Rechte als gleichsam naturrechtlich sakrosankt anzusehen scheint. Dabei war es ebenjenes Recht, auf das sich in den amerikanischen Südstaaten während der Rassentrennung weiße Geschäftsleute berufen konnten, wenn sie die Bedienung von Schwarzen ablehnten.

Diskriminierung geht im täglichen Leben immer stärker von nichtstaatlichen Akteuren aus. Wer sie bekämpfen will, wird Vertragsfreiheit einschränken müssen. Auch dass die Begrenzung von Wahlkampfspenden in den USA nach dem Supreme Court die Meinungsfreiheit der Spender unzulässig einengt, scheint für Allen nicht weiter problematisch. Dabei ist der Einfluss von Spenden in den USA ein Paradebeispiel dafür, wie Menschen ohne nennenswerte Geldreserven vom passiven Wahlrecht faktisch ausgeschlossen werden. Für politische Gleichheit im Allgemeinen und gesellschaftliche Minderheiten besonders verheerend.

Konflikte zulasten einer Seite zu entscheiden, das kommt aber bei Danielle Allen, die alles über Aushandlungsprozesse löst, nicht vor. Sie widmet sich dafür ausführlich Einzelbeispielen. So nimmt sie sich Weyl und Posner vor, in deren Modell Arbeitsmigranten Wohlstand in ihre Heimat transferieren, während man ihnen in den Einwanderungsländern zum Schutz des gesellschaftlichen Zusammenhalts Bürgerrechte verweigert. Das lehnt Allen verständlicherweise ab.

Eine funktionierende Gesellschaft beteiligt also sämtliche Gruppen und Identitäten. Doch so grundsätzlich „politische Gleichheit“ auch klingt – mit Begriffen geht Allen unkritisch um. Kommt sie auf Sozialkapital zu sprechen, zitiert sie in einer Fußnote kurz Bourdieu, um ihn zugunsten Robert Putnams links liegenzulassen. Ansonsten eignet ihr auch sprachlich eine Rhetorik der Verständigung, die sich in Begriffen wie Linking, Bridging, und Bonding manifestiert. Danielle Allen greift auf Aristoteles zurück, wenn sie reklamiert, dass die am besten ausgebildeten und tugendhaftesten „die epistemische Führung in einem politischen Gemeinwesen übernehmen sollen.“ Hier scheint auch das Platon’sche Ideal der Philosophenkönige durch. Die aber wohl auch nicht ohne Herrschaft auskommen dürften.

Es geht letztlich immer um Anerkennung, und da verwundert es doch ziemlich, dass der Name Hegel nicht ein einziges Mal fällt. Allen gibt sich rhetorisch lose wirtschaftsliberal. Mit George Marshall betont sie eine „stabile ökonomische Grundlage“, die auf „freier Arbeit, tragfähigen Verträgen und stabilen Preisen sowie egalitären Verteilungsmustern beruht.“ Die man dann wohl auch irgendwie institutionell aushandelt. Dass Marx in ihren Überlegungen ebenfalls keinen Platz findet, verwundert wenig.

In der Mitte des Buches zitiert Danielle Allen den Romancier Ralph Ellison, der in Der unsichtbare Mann von Schwarzer Identität im Amerika der Rassentrennung schrieb. Anstatt des gängigen Terminus des „Schmelztiegels“ berief er sich auf den „Flickenteppich“, um die zahllosen in einem Individuum präsenten Identitäten zu betonen. Einer der seltenen Anlässe, zu denen dieser Einrichtungsgegenstand ein positives Gepräge erhält.

Auch Allens Buch ist ein Flickenteppich, allerdings kein sonderlich dicht gewebter. Die hierzulande verbreitete Vorstellung, Amerikaner würden dank der Eleganz der englischen Sprache in wissenschaftlichen Texten griffiger und pointierter formulieren, widerlegt sie mühelos: „Wenn man von der Fluidität, Hybridität und Intersektionalität der Identität und der sich je nach Kontext wandelnden Profilierung der unterschiedlichen Komponenten der Identität einer Person ausgeht, verschiebt sich unweigerlich auch die Konzeptualisierung von sozialen Gruppen.“ Derlei Hauptwortorgien tragen ihr Übriges dazu bei, dass Danielle Allens seltsam entrückter Ansatz sich mehr wie ein Sammelsurium denn als erhellende Theorie darstellt.

Titelbild

Danielle Allen: Politische Gleichheit.
Aus dem Englischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
200 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587515

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