Geometrie des Erzählens

Franziska Hauser schickt ihre „Glasschwestern“ auf Initiationsreise

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine alte Idee, ein Erzählwerk als Versuchsanordnung anzulegen und wie ein naturwissenschaftliches Experiment ablaufen zu lassen. Goethe tat es mit seinem Roman Die Wahlverwandtschaften. Darin verglich er Beziehungen zwischen Menschen mit chemischen Molekülen, die sich auflösen und neu verbinden, wenn sie aufeinandertreffen. Der französische Romancier Émile Zola sprach vom Experimentalroman, der nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung funktioniere. Der Autor beobachtet seine Figuren dabei, wie sie aufeinander reagieren und erforscht die Bedingungen, unter denen sie sich nur so und nicht anders verhalten können, weil ihr Verhalten determiniert ist.

Die Berliner Autorin Franziska Hauser stellt sich in diese Tradition, wenn sie von einem „Forschungsauftrag“ spricht, dem sie sich beim Schreiben ihres dritten Romans Die Glasschwestern verpflichtet sah. Die Ausgangssituation ist überraschend und auf den ersten Blick einigermaßen unwahrscheinlich: Die Zwillingsschwestern Dunja und Saphie sind gleichzeitig von dem Schicksalsschlag betroffen, dass ihre Ehemänner ums Leben kommen. Dunjas Mann Winne, ein Restaurator, stürzt vom Balkon eines Fachwerkhauses. Gilbhart, Saphies Mann, mit dem sie ein Hotel betreibt, sinkt mit einem Herzinfarkt vom Hometrainer, den ihm seine Frau verordnet hat.

Die beiden Schwestern stehen sich seit längerer Zeit nicht sehr nah, ist doch die eine, die kinderlose Saphie, im heimatlichen Dorf auf der östlichen Seite der ehemaligen innerdeutschen Grenze geblieben, während Dunja mit ihren inzwischen fast erwachsenen Kindern Augusta und Jules in der Großstadt lebt. Dunjas Ehe war zerrüttet, beide Ehepartner lebten getrennt. Auch mit Saphies Ehe stand es nicht zum Besten, obwohl sie noch mit Gilbhart, der Alkoholiker war, zusammenlebte.

Auffällig ist die eigenwillige Namensgebung der Autorin für ihre Figuren. Sie signalisieren die Besonderheit der beiden Zwillingsschwestern, die als Kinder eigentlich lieber Diana und Sophie geheißen hätten. Aber die extravagante Mutter, die auf den Namen Brigäne hörte, wollte ihnen keine gewöhnlichen Namen geben. Die dritte, wesentlich jüngere Schwester, die sich später als Halbschwester herausstellt, heißt Lenka und hat in der Familie und im Handlungskontext des Romans eine Sonderrolle. Der ebenfalls ungewöhnliche Name Gilbhart wird textintern nicht motiviert, kann aber, da er der alte Name für den Weinmonat Oktober ist, mit der Vorliebe seines Trägers für den Alkohol in Verbindung gebracht werden. An die Stelle Gilbharts tritt ein Hund namens Hewimonat, althochdeutsch, so werden wir belehrt, für den Heumonat Juli. Saphie wird daraus den Rufnamen Hewimann machen.

Der Exkurs lässt die Sensibilität Franziska Hausers für Sprache, Sprachklang und Zeichenbedeutungen erkennen. Hinzu kommt eine Neigung zum Sprachspiel, die sich in den sprichwörtlichen Kapitelüberschriften zeigt. Die teils bekannten, teils seltenen, teils vielleicht auch verfremdeten Sprichwörter fungieren als ironische Kommentare zu den Kapiteln. Nur sie verweisen in dem sonst durchweg aus Figurenperspektive im Präsens erzählten Roman auf eine erzählende Instanz.

Was entwickelt sich nun aus dieser Versuchsanordnung? Die beiden Zwillingsschwestern, die im Dorf Glasschwestern heißen, weil der Vater eine Glasbläserei besaß, die an einen VEB angeschlossen war, bewegen sich zunächst aufeinander zu. Diese Bewegung wird über etwa zwei Drittel des Romans aus Dunjas Perspektive erzählt. Es entsteht der Eindruck, als handle es sich um die Erzählung von einer zweiten Adoleszenz. Kurz vor ihrem 40. Geburtstag, nach dem Tod ihres Mannes von restlichen Bindungen an ihn befreit und von der unmittelbaren Verantwortung für die Kinder entlastet, begibt sich Dunja, wie im Adoleszenzroman üblich, auf eine Inititationsreise. Sie entdeckt ihre Sexualität neu, lässt sich auf eine Nacht mit einem jüngeren Mann ein, verlässt ihre gewohnte Umgebung in der Großstadt und kehrt, allerdings abweichend vom Üblichen einer solchen Reise, an den Ort ihrer Kindheit zurück.

Dort betätigt sich ihre Schwester als kühl kalkulierende Geschäftsfrau und unermüdliche Macherin. Ohne sie wäre der Hotelbetrieb schon lange am Ende gewesen, denn der Mann war ihr keine Stütze. Während die sensible Dunja sich mit Erinnerungen an ihre Kindheit und an die Zeit mit Winne und ihren damals noch kleinen Kindern beschäftigt, hat Saphie alles vergessen, denn sie blickt in die Zukunft.

Drei Faktoren bringen diese Konstellation durcheinander. Lenka, unkonventionell, den Drogen nicht abgeneigt, ein bekannter Popstar, trifft ein und erweist sich als Element der Unordnung, als Katalysator für unerwartete Entwicklungen, wovon vor allem Dunjas Sohn Jules betroffen ist. Zum zweiten hat ein Kamerateam des deutschen Fernsehens in dem Dorf einen Stoff für eine Dokumentation über ein Fluchtvorhaben an der innerdeutschen Grenze entdeckt. Dadurch kommt manches aus der längst verdrängten Vergangenheit wieder an die Oberfläche. Drittens findet Dunja ihren Traummann in Gestalt eines alten Jugendfreundes. Die Linien, auf denen Dunjas und Saphies Leben sich getroffen haben, streben wieder auseinander, und zwar genau spiegelbildlich. Saphie vermisst plötzlich Gilbhart so sehr, dass sie handlungsunfähig wird, tagelang nur melancholisch herumsitzt und ihren Erinnerungen nachgeht. Dunja wird aktiv und übernimmt den Hotelbetrieb. Symbolisch tauschen beide sogar ihre BHs: Dunja, die früher bevorzugt blau getragen hat, trägt nun Saphies roten und umgekehrt.

In dieser Symmetrie liegt ein Problem des Romans. Zu fragen ist dann doch, wie glaubhaft die Wandlung der beiden Schwestern motiviert ist und ob nicht auch die Gegensätze der Figuren allzu konstruiert sind, da sie sich letztlich ins Gegenteil verkehren. Dunja ist in der, trotz des Untergangs der DDR, als weitgehend statisch beschriebenen Dorfwelt wieder angekommen. Sie führt sogar neben der Tätigkeit als Hotelchefin die Glasbläsertradition der Familie fort. Saphie verfällt allzu unvermittelt in ihre haltlose Trauer um Gilbhart, an dem sie zu Lebzeiten wenig Freude gehabt hat.

Genauso plötzlich, wie ihr Gemütszustand umschlägt, wechselt im letzten Drittel auch die Erzählperspektive zu Saphie, die sich mit ihrem Hund Hewimann auf eine Reise mit unbestimmtem Ziel macht. Es scheint, als habe die Autorin das Interesse an Dunja verloren und sehe nun der anderen Schwester bei ihrer zweiten Initiation zu. Der Neuanfang der einen Schwester knüpft so sehr an das Alte an, dass er eigentlich keiner ist. Derjenige der zweiten bleibt unabgeschlossen. Die dritte erwartet ein Kind. Dass dies für sie der Beginn einer bürgerlichen Familienexistenz ist, ist möglich, scheint aber angesichts der Vorgeschichte unwahrscheinlich. Am Ende, als Saphie am Meer ist, fangen die Möwen grundlos an zu lachen.

Der „Forschungsauftrag“, den die Autorin sich vorgenommen hat, erweist sich vor allem als Beobachtungsauftrag ohne Zwang zu Schlussfolgerungen. In genauen Beobachtungen liegt die Stärke des Romans. Zuweilen blitzt dabei Humor auf, etwa wenn das Verhalten der neureichen Frauen in der Clubsauna des Dorfes beschrieben wird. Da der Text, worauf schon der Titel hinweist, eine gewisse Kühle ausstrahlt, werden die Leser/innen eher selten zu emotionaler Beteiligung, dafür mehr zur Reflexion herausgefordert.

Titelbild

Franziska Hauser: Die Glasschwestern. Roman.
Eichborn Verlag, Köln 2020.
430 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900450

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