Ein Leben in Bildern

Die dänische Schriftstellerin Christina Hesselholdt versucht sich dem unorthodoxen Leben der Fotografin Vivian Meier in einem ebenso unorthodoxen Roman zu nähern

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Vivian Meier 2009 im Alter von 83 Jahren verstarb, war sie eine unbekannte verarmte Frau, deren umfangreicher Nachlass – den sie in mehreren Mietlagern untergebracht hatte – kurz zuvor versteigert worden war. Meier konnte sich die Miete für die, glaubt man Hesselholdt, auf vierzehn Stück angewachsene Zahl an Lagern nicht mehr leisten. Wie in solchen Fällen üblich, wurde ein Teil des Inhalts versteigert, damit der Vermieter zumindest seine Unkosten decken konnte.

In dem Wust von aufgehobenen und gesammelten, doch letztlich größtenteils nutzlosen Kram – neudeutsch würde man Frau Meier heute als ‚Messi‘ bezeichnen – fand der Höchstbietende jedoch einen Schatz: Unzählige unentwickelte Filmrollen (sowie entwickelte Bilder), man spricht von bis zu 200.000 Aufnahmen. Meier war bereits zu krank, um auf die Anfragen jenes Ron Stattery antworten zu können, doch auf mehreren Umwegen (und über zahlreiche Rechtsstreitigkeiten, auf beides soll hier wie auch im Roman nicht eingegangen werden) wurden die Fotos ausgestellt und heute gilt Vivian Meier als eine der berühmtesten und anerkanntesten Straßenfotografinnen des 20. Jahrhunderts.

All dies steht nur in Umrissen in Hesselholdts Buch, man muss sich mit der eigentlichen Geschichte um Vivian Meier, die zeitlebens mit einem Fotoapparat um den Hals durch die Straßen New Yorks und Chicagos gelaufen ist und dort Menschen wie Szenen (und oft auch ihr gespiegeltes Selbst) abgelichtet hat, schon selbst durch Recherche vertraut machen. Eigentlich arbeitete sie, die aus einem zerrütteten Elternhaus kam, deren Bruder zudem dem Wahnsinn anheimfiel, als Kindermädchen, zog alle paar Jahre zu einer neuen reichen Familie und musste doch wieder gehen, wenn die Kinder alt genug waren, um sie sich selbst zu überlassen.

Meier – und auf diesen Aspekt ihres Lebens konzentriert sich Hesselholdt vornehmlich – war bei ihren Arbeitgebern und ihren Kindern trotz ihrer extremen Schrulligkeit sehr beliebt. Die großwüchsige Frau schlenderte meist in Männerklamotten durch die Straßen, hatte eine herrische, gleichsam unsichere Art, verteidigte aber vor allem ihre Autonomie und ihre Überzeugungen mit kompromissloser Vehemenz. Zeitlebens blieb sie allein und „unberührt“. In ihrem Zimmer hortete sie neben zahlreichen Fundstücken, von denen sie sich niemals trennen konnte, auch abertausende Zeitungen, weil sie sich ja nicht alles merken könne, was darin steht, und gleichzeitig nichts vergessen will. Als sie einmal vergisst, ihre Zimmertür abzuschließen, sehen ihre Arbeitgeber ein völlig mit Zeitungen zugestelltes Zimmer, durch das man sich nur in schmalen Gängen bewegen kann. Weil auch das Bett mit Zeitungen bedeckt ist, schläft Meier auf dem Boden.

Dies sind nur einige der Geschichten, die in Vivian aufgegriffen werden, und sie hätten einen unterhaltsamen biographischen Roman zwischen Fakt und ein wenig Fiktion ergeben. Doch Hesselholdt will mehr, und leider überfrachtet sie ihr Buch – und die wunderbare Geschichte, die sie als erste in Romanform erzählt – mit einem stilistischen Kniff: Vivian ist im Stil einer Oral History geschrieben, die handelnden Figuren erzählen in kurzen Absätzen aus ihrer eigenen Perspektive. Als wäre das nicht genug, gibt es auch noch einen „Erzähler“, der in bester postmoderner Tradition gleichzeitig erzählt, als auch seine eigene Rolle immer wieder hinterfragt. Er tritt auch immer öfter in den Dialog mit seiner Figur Vivian und fängt zwischendurch sogar an, über sein eigenes Leben zu reflektieren. Und als ob das noch nicht genug Experiment wäre, beschränkt sich Hesselholdt nur auf wenige Episoden aus Meiers Leben, den Großteil des schmalen Buches nimmt ihre Zeit bei der zumindest teilweise fiktiven Familie Rice ein. Auch ihre Familiengeschichte wird, am Anfang und gegen Ende des Buches, stark in den Mittelpunkt gerückt.

Aufgrund der Häufung dieser stilistischen Mittel wirkt der Roman trotz der spannenden Thematik an vielen Stellen anstrengend und artifiziell. Andererseits gelingt es der Autorin, vielleicht gerade aufgrund der unorthodoxen Struktur, das Leben dieser ungewöhnlichen Frau, vielleicht auch das Chaos, das ihr Dasein beherrscht hat, glaubwürdig einzufangen. Dass zumindest Hesselholdts Erzähler sein eigenes Vorgehen durchaus kritisch sieht, offenbart er den Leser*innen gegen Ende des Romans:

Ich kann diese Dokumentarfilme mit dramatisierten Szenen nicht ausstehen, wenn eine wahre Begebenheit erst erzählt wird, und anschließend spielen ein paar Schauspieler die Szene nach, von der der Erzähler soeben berichtet hat. In finsteren Momenten denke ich, ich bin selbst in die Fußstapfen dieses entsetzlichen Genres getreten.

Titelbild

Christina Hesselholdt: Vivian.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
208 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265899

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