Bittere Kost

Will Self präsentiert in „Leberknödel“ nicht-durchgeführte Sterbehilfe als Wiederauferstehung, verliert sich dabei aber in überstilisiertem Ekel

Von Laurin RensonetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laurin Rensonet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Novelle Leberknödel des Briten Will Self, in deutscher Übersetzung von Gregor Hens 2018 bei Hoffmann und Campe erschienen, ist ursprünglich (mit im Original identischem Titel) Teil eines zehn Jahre älteren Bandes von zwei Kurzgeschichten und einer weiteren Novelle namens Liver: A Fictional Organ With a Surface Anatomy of Four Lobes. Die zwei kleineren und zwei größeren literarischen “Teile” sollen so also etwa den vier Lappen der menschlichen Leber entsprechen. Der englischen Kritik nach bereits einstimmig zum stärksten Teil des Bandes erkoren hielt man es wohl für genug Leber auf einmal für den deutschen Markt, bei zumindest 200 Seiten ließ sich der Text auch auf dem Deckblatt erst einmal überzeugend als “Roman” ausweisen.

Der Band wurde von der Kritik durchweg positiv rezipiert. Self, dessen Liver sein fünfter Kurzgeschichtenband war, veröffentlicht im selben Jahr wie sein achter Roman, genießt auch schon seit längerem hohes Ansehen, schreibt regelmäßig für viele der großen Magazine wie den Guardian und die New York Times, zu seinen Fans gehört unter anderen auch Harold Bloom.

Leberknödel beginnt mit einer Flugzeugreise von England in die Schweiz, wo unsere Leberkrebs-leidende Protagonistin Joyce Beddoes die schweizerische Sterbehilfe in Anspruch nehmen will. Im Schlepptau hat sie ihre alkoholkranke Tochter Isobel, für welche sie offenherzig wenig Respekt hat. Auch der Anlass ihrer Reise hält Joyce nicht davon ab, Todesangst zu verspüren während ihres Flugs. Von Inkontinenz geplagt hinterlässt sie einen nassen Flugzeugsitz und quartiert sich mit nassen Kleidern in Zürich ein, um am nächsten Tag zu sterben. Sie fühlt sich schrecklich, und darüber hinaus findet sie auch so ziemlich alles und jeden um sich herum schrecklich: Sie sieht überall Tiere in den Menschen (ein kafkaesques Motiv welches sich durch die gesamte Erzählung zieht), “widerlich” und “hässlich” sind die Schlagwörter.

Am entscheidenden Tag trinkt sie bereits ohne Zögern das Anti-Brechmittel, nur um im allerletzten Moment mit Blick auf die Tochter und Argwohn auf deren Absicht auf ihr Erbe doch nicht das Gift zu trinken. Die Tochter ist mehr verwirrt als erleichtert, was Joyce nicht entgeht. Impulsiv lässt sie die Tochter alleine stehen, Fragen nach einem Rückflug unbeantwortet, spült ihre mannigfachen Medikamente die Toilette hinunter, verlängert ihren Aufenthalt im Hotel und fängt an, ziellos durch die schweizerische Stadt zu wandern.

Hingezogen zu einer Kirche trifft sie dort auf das Paar Ueli und Marianne, welche sie christlich-besorgt zum Essen einladen. Trotz fehlender Medikamente und den sonst üblichen Problemen hat Joyce starken Hunger, besonders die Leberknödel in der Suppe schmecken ihr sehr. Als sie den beiden ihre Geschichte erzählt, vermittelt der “ausländerfreundliche” Ueli ihr kurzentschlossen eine Wohnung bei einer Freundin namens Vreni. Vreni kennt sich mit Krebs aus – sie hat ihre Tochter bereits im Kindesalter an der Krankheit verloren –, umso mehr verwundert es sie, dass Joyce nach kurzer Zeit überhaupt nicht mehr krank aussieht. Eines Tages bekommt Joyce unvermittelt Besuch von Ueli, Marianne und einem Priester, welcher untersuchen will, ob Joyce ein Wunder widerfahren ist. Sie bekommt während der Untersuchung Unterstützung von der Kirche, um weiter in Zürich wohnen zu können, doch mehr und mehr fühlt sie sich hier selbst wie ein Fremdkörper.

Christliche Symbolik ist von Anfang an weniger als dezent eingesetzt – die Kapitel sind nach den Gesängen eines Gottesdienstes benannt (Joyce war Sängerin im Chor) und lateinische Auszüge tauchen wie ein Ohrwurm immer wieder in ihrem Gedankenstrom auf. Joyce meint, gar nicht gläubig zu sein, und hat eine ambivalent-skeptische Haltung gegenüber der Möglichkeit eines Wunders oder gar “Auferstehung” von ihrem sicheren Tod.

Trotz ihrer Misere ist es schwierig mit Joyce mitzufühlen, da sie auch selbst kaum Empathievermögen zu haben scheint. Anfangs wirkt es, als projiziere sie den Ekel auf ihren eigenen Körper auf alles, als eine Art Weltekel, aber selbst nach ihrer Genesung verändert sich ihre Denkweise wenig. Trotz Selfs durchaus gekonnten Schreibstils hinterlässt Leberknödel diesem Rezensenten so den Eindruck, in erster Linie ein literarischer Versuch in Weltekel als Ästhetik zu sein, was theoretisch erstmal nicht verwerflich ist, aber hier als Leseerfahrung nur wenig überzeugend bleibt, und schlimmer, wenig genießbar. Es ist das literarische Äquivalent eines zu langen Aufenthalts bei einer bitteren, besonders schlecht gelaunten Großmutter.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2020 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2020 erscheinen.

Titelbild

Will Self: Leberknödel. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Gregor Hens.
Tempo Verlag, Hamburg 2018.
205 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783455001976

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