Vermischtes aus der Bundesstadt

Der Wahlschweizer Jürgen Theobaldy erzählt „Geschichten im Vorübergehen“

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Rand von Ostermundigen“ – so hätte die Sammlung von kürzeren Erzähltexten des vor allem als Lyriker bekannten Autors Jürgen Theobaldy durchaus auch heißen können, lebt er doch seit 36 Jahren in dieser Schweizer Kleinstadt in der Nähe der Bundeshauptstadt Bern. Doch der Titel ist bereits vergeben – ein Geschichtenbändchen seines Schweizer Kollegen Franz Hohler heißt so, erschienen im Jahre 1973, in welchem Theobaldy in Deutschland als Lyriker debütierte. Kurz darauf trat er mit seinem ersten Roman an die Öffentlichkeit, worauf noch vier weitere folgten. Erst jetzt, im Alter von Mitte siebzig, hat sich Theobaldy nach zwei vorangegangenen verstreuten Prosabändchen erneut der kurzen Erzählform zugewandt.

Sein Ich-Erzähler ist gleichsam am Rand positioniert, doch nicht von Ostermundigen, sondern von Bern. Er erzählt aus der Beobachterperspektive des Zugereisten, der „nichts anderes einnehmen (mag) als so etwas wie eine Funktion, eben die des Erzählers“, wie es im ersten Text Auf dem Posten, einer Art einleitendem Selbstkommentar, heißt. Doch die rund 70 Texte, im Durchschnitt drei bis vier Seiten lang, zeichnen nichts weniger als ein Bild der Stadt Bern in einer Reihe von behaglich-schnurrigen Lokalanekdoten.

Zwar wird nicht unkenntlich gemacht, dass die meisten Geschichten sich in Bern zugetragen haben mögen, doch werden sie so dargeboten, dass das nicht das Entscheidende ist. Wo sich lokale Eigenheiten aufdrängen, wird in einer Weise erzählt, dass das Stereotyp scheinbar bestätigt, aber zugleich distanzierend bloßgelegt wird. Im kleinen Text Suchanzeige etwa wird das eigentliche Erlebnis – der Erzähler stößt einmal beim Flanieren auf einen Aushang „Schildkröte entlaufen“ – nur geschildert, weil es das schweiz-eigene Klischee der allzu langsamen Berner, dem der Erzähler gerade nicht anhängt, zu bestätigen scheint; quasi eine Pointe wider Willen.

Überhaupt ist Theobaldy nicht auf Pointen aus; auch wenn viele Geschichten im Gestus der älteren Novellistik von unerhörten Begebenheiten handeln – nicht zuletzt Unglücks- und anderen Störfällen des Lebens –, so wird nie geradlinig und einförmig erzählt, dafür hat das sprachlich-stilistische Potenzial dieses Erzählens zu viel Eigenwert. Ob es sich um Selbsterlebtes oder um in Gesprächen oder Zeitungslektüre Aufgeschnapptes handelt, ist dabei gar nicht so wichtig. Daneben stehen Alltagsbeobachtungen mit nur minimalem Geschehenskern, die – ähnlich wie in Kafkas Kurzprosa – etwas reflektierend umkreisen und vertiefen. Eine Trias von Porträts dreier anonymer, ganz unspektakulärer Frauen, denen der Erzähler auf seinen Wanderungen begegnet (und wie sie jeder beobachten könnte), lebt ausschließlich von der fein ziselierten Schilderungskunst, die den Momentaufnahmen Tiefe verleiht. Oder der Text ist von rein essayistischem Zuschnitt, wenn der Erzähler über Terrorismus, Pulvermilch, Pferdefuhrwerke oder Statistik sinniert.

Theobaldys Kurzprosa verfügt über verschiedene Erzähltöne, nur vom Erzählgestus der modernen Short Story mit ihrem Dialogstil ist sie denkbar weit entfernt. Die Instanz des (unbeteiligten) Ich-Erzählers und der damit einhergehende Erzählgestus lässt die Geschichten leicht altmodisch erscheinen, doch das trügt. Es ist durchaus keine falsche Pose erzählerischer Ursprünglichkeit, da Theobaldy kein „naiver“, sondern ein „sentimentalischer“ Erzähler ist, der sich der Nähe zu prominenten Prosaschriftstellern, die zugleich große Stilisten waren, wie Heinrich von Kleist, Johann Peter Hebel oder Franz Kafka, wohl bewusst ist. Eine etwas längere Erzählung zum Beispiel, handelnd von einem Klassentreffen, bei dem zwei Kameraden reglos-stumm im Hinterzimmer gesehen wurden, die – wie sich herausstellt – kurz zuvor tödlich verunglückt sind, mutet als moderne Gespenstergeschichte, geradezu wie von Kleist erfunden, an.

Dann gibt es kleine erzählerische Kabinettstücke, die nur aus einem einzigen Satz bestehen, ohne dabei manieriert zu wirken; einer dieser Texte über einen einsamen jugendlichen Fußballspieler ahmt den Periodenbau in Kafkas bekanntem Kurztext Auf der Galerie genau nach – ein Fall intertextueller Referenz ausschließlich mit Mitteln des Satzbaus, ein syntaktisches Pastiche. Oder der Autor lässt, augenzwinkernd nur mit diskreten Anspielungen, in einer Binnenerzählung einen Lastwagenfahrer aus Clouzots existenzialistischem Thriller Lohn der Angst von seinem Abenteuer erzählen – auch ein verschmitztes Capriccio von Theobaldys Erzählkunst. Da stört es nicht den Gesamteindruck, wenn die eine oder andere Geschichte vom Stoff her nicht recht zum Erzählformat passen will, da sich die Figuren im gegebenen Rahmen nicht psychologisch entfalten können.

Der doppelsinnige Titel der Sammlung Geschichten im Vorübergehen ist mithin nur in einer Lesart zu bestätigen: Wohl sind es Geschichten, die ein Erzähler im Vorübergehen aufgeschnappt haben mag, doch en passant, nur beiläufig-flüchtig, erschließen sie sich zum größten Teil nicht. Wenn man Theobaldys Kurzprosasammlung zwischen ähnlichen Sammlungen der jüngsten Zeit einordnen sollte, so liegen sie, was Tiefgang und erzählerische Raffinesse angeht, um vieles näher beim Kalendergeschichten-Band Mikado (2006) des gleichaltrigen Botho Strauß als bei der im vergangenen Jahr erschienenen Sammlung Kaffee und Zigaretten des Bestsellerautors Ferdinand von Schirach, deren Titel ebenso das Beiläufige und Alltagsnahe anklingen lässt. Auf jeden Fall ist die Tradition des alemannisch-schweizerischen Geschichtenerzählens, von Johann Peter Hebel über Robert Walser bis zu Peter Bichsel und Franz Hohler, um die Stimme eines flanierenden Zugereisten bereichert worden.

Titelbild

Jürgen Theobaldy: Geschichten im Vorübergehen.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2020.
272 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783038670261

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