Dorf ohne Brücke

Der gelungene Roman „Westwind“ von Samantha Harvey führt mit faktenreichem Zeitkolorit an den Ausgang des Mittelalters

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Samantha Harveys Roman Westwind spielt kurz vor der Fastenzeit des Jahres 1491 im armseligen englischen Dorf Oakham in Somerset. Sechs Jahre zuvor ist mit Begründung der Tudor-Dynastie in England das Mittelalter zu Ende gegangen. Die Entdeckung Amerikas steht bevor. Die Brücke zur Neuzeit tut sich auf.

Nicht für die Leute in Oakham. Da gibt es nicht mal eine Brücke über den Fluss, nachdem der Neubau zusammengebrochen ist. Abgeschnitten von der Welt, fristen die Dörfler ihr karges Leben. Während in großen Städten prächtige Kathedralen entstehen, deren dekorierte Fenster die Glaser reich machen, muss die kleine Kirche von Oakham ohne Fenster auskommen. Als „Beichtstuhl“ hat sich der örtliche Priester John Reve ein Provisorium aus Kisten und Vorhängen gebaut. Den dreizehnten Winter ist der aus Southhampton stammende Geistliche im Dorf.

Dieser Ich-Erzähler, John Reve, zieht den Leser sofort in den Bann. Er beschreibt sich als großgewachsen und unsicher und steckt voller Widersprüche: einsatzstark und bedenkenvoll, gläubig und voller Zweifel. Nach und nach enthüllt sich sein schweres Schicksal. Die Mutter ist im Feuer umgekommen, der Vater hat ihn nicht geliebt, die Schwester zog eben erst bei ihm aus und heiratete einen Schwächling, um nicht als alte Jungfer zu enden.

Bitterkalter Ostwind setzt den Menschen in Oakham zu. Westwind wäre wünschenswert und ist für Reve ein Leitmotiv seines Lebens. Mit Westwind hat Moses einst die Heuschreckenplage in Ägypten beendet. Westwind hat in Reves Kindheit eine lebensbedrohliche Feuersbrunst in den Wald zurückgeweht. Westwind soll in Oakham die bösen Geister vertreiben und dem Priester zeigen, dass der Herr ihn als seinen Diener akzeptiert, obwohl er mancher Versuchung erlegen ist.

John Reve spürt das Gewicht des Dorfes auf seinen Schultern. Er liebt seine Gemeinde aufrichtig und ohne Illusionen. Seine wichtigste Aufgabe sieht er darin, Hoffnung zu vermitteln. Die Bewohner sind sich einig, dass er ihnen ein guter Hirte ist.

Der Priester weint um einen Toten. Sein Freund Thomas Newman, der reiche und weitgereiste Wohltäter des Dorfs, zwölf Jahre zuvor nach dem Verlust von Frau und Kind nach Oakham gekommen, wurde vom Fluss mitgerissen. Newman half jedem, spendete für die Brücke und genoss allgemeine Verehrung. John Reve ist voller Gewissensbisse, weil er dem Freund trotz dessen erklärter Selbstmordabsicht nicht die Sakramente gespendet hat. Newman wird dem Dorf fehlen. Er war auf Pilgerfahrt in Rom und weiß um die Entwicklungen in Europa. Wer soll nach seinem Tod das von aller Welt abgeschnittene Oakham in die neue Zeit führen?

Das rätselhafte Verschwinden Newmans – sein Leichnam wird nicht gefunden – bringt einen Dekan aus der Nachbarschaft ins Dorf. Der steht in der kirchlichen Hierarchie nur eine Stufe über Reve. Weil der Bischof in politischer Haft sitzt und der Erzdiakon überlastet ist, wächst dem kleinen mausgrauen Dekan erhebliche Macht zu. Er hat es, wie Reve bildhaft vergleicht, auf die Kommandobrücke geschafft, ohne Seemann zu sein. Der Priester möchte im Dekan einen Bruder sehen. Der aber schlägt sein Quartier dreist in Newmans komfortablem Haus auf.

In der verbissenen Auseinandersetzung zwischen den beiden ungleichen Dienern Gottes geht es vordergründig um das Rätsel von Newmans Tod. War es Unfall, Selbstmord, Mord? Dem Dekan ist zuzutrauen, dass er um jeden Preis einen Schuldigen nach oben melden will. Die Autorin zeichnet auch diesen obrigkeitshörigen Streber differenziert. Durch eine Geste, ein Wort oder ein Lächeln wird er für Reve manchmal erträglich.

Ein Verdächtiger für den Mord an Newman ist rasch zur Hand. John Reve weiß zwar, dass dieser Mann den größten Teil von Newmans Besitz erben wird. Doch das muss vorläufig geheim bleiben, um ihn nicht noch verdächtiger zu machen. Und es gibt Leute im Dorf, die lauthals ihre Schuld an Newmans Tod verkünden. Darunter ist ein junger Mann, den Newman an Kindesstatt großgezogen hat. Lange bleibt unklar, ob diese Schuldbekenntnisse auf Wahnvorstellungen beruhen. Auch der Nachweis eines Selbstmords wäre ein schwerer Schlag für das Dorf. Newmans Reichtum fiele an die Krone. Die Mönche einer nahen Abtei gieren nach dem Grund und Boden.

Ein Kirchenmann als Ermittler in einer mittelalterlichen Todessache – man denkt unwillkürlich an Umberto Ecos Welterfolg Der Name der Rose. Sein verfilmter Roman hat diesem Subgenre gewaltigen Aufschwung verliehen. Seither ermitteln mittelalterliche Mönche massenhaft in Mordsachen. Samantha Harvey schwimmt nicht auf dieser Welle mit, sondern schreibt ein eigenständiges Buch voller Gedankentiefe und faktenreichem Zeitkolorit. Das Rätsel, wie Newman zu Tode gekommen ist, führt zum Nachdenken über das mitmenschliche Zusammenleben in schweren Zeiten.

Ein Buch über das europäische Mittelalter, erzählt aus der Sicht eines Kirchenmanns, muss dem christlichen Glauben viel Platz einräumen. Für Reve wie für seine Schäfchen ist die Existenz Gottes unfraglich. Die Dorfleute streben nach Vergebung für die großen und kleinen Sünden, vom Mundraub bis zum Ehebruch, die sie ihrem Priester beichten. Die Frage, warum Gott das Böse zulässt, beantwortet Reve, so gut er es vermag: Der Herr prüft uns.

Erzählt werden die Geschehnisse der dramatischen vier Tage rückwärts, vom Fastnachtsdienstag zum Fastnachtssamstag. Die gewagte Struktur erweist sich als ideal für das spannungsvolle Enthüllen von Halbwahrheiten und Lügen. Der oft stockende und ausweichende Bericht macht den Priester zu einer interessanten Variante des „unzuverlässigen Erzählers“. Am überraschenden Ende zeigt sich, dass der Dekan gute Gründe hatte, nicht alles zu glauben, was man ihm erzählte.

Samantha Harvey gestaltet eindrucksvolle literarische Porträts der Kirchenmänner und des Verschwundenen. Zahlreiche Dorfbewohner nehmen Gestalt an, darunter eine nach Mist und Lavendel riechende Gutsherrin und eine Kirchendienerin mit blassem Mondgesicht. Die Sprache ist reich und tief und scheut vor modernen Wendungen und gewagten Bildern nicht zurück –  einer Frau sind die Gebete „ins Gebein geschnitzt“. Der Vergleich der deutschen Übersetzung mit einer Leseprobe aus dem englischen Original bestätigt den Gesamteindruck, dass der Übersetzer Steffen Jacobs vorzügliche Arbeit geleistet hat.

In Goethes Faust ist von dem „groß Ergetzen“ die Rede, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen. Der vierte Roman der englischen Schriftstellerin Samantha Harvey verhilft dem Leser mustergültig zu dieser Freude.

Titelbild

Samantha Harvey: Westwind.
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs.
Atrium Verlag, Berlin 2020.
350 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783855350773

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