Malerische Schönheiten und andere Sprachwunder
Friederike Mayröckers Buch „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ ist ein grandioses poetisches Kunstwerk
Von Herbert Fuchs
Die Titel von Friederike Mayröckers Büchern lassen immer aufhorchen. Überschriften wie brütt oder Die seufzenden Gärten, Die kommunizierenden Gefäße, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, wie Und ich schüttelte einen Liebling oder – verkürzt kommt der Titel im neuesten Buch vor – vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn sind sprachlich ungewöhnlich und gleichzeitig so poetisch, dass sie neugierig machen und sich einprägen.
Auch die neueste Veröffentlichung der über 95-jährigen Wiener Schriftstellerin trägt einen auffälligen Titel: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Er verweist darauf, dass Schreiben (auch) ein Schauen ist und aus Beobachtungen entsteht. Über ihr Schreiben am Morgen, oft unmittelbar nach dem Aufwachen, hat sich Mayröcker in vielen Texten geäußert. Der Morgen befördert ihre Kreativität und ermöglicht es ihr, ihre Träume der Nacht zu verarbeiten und die Entwürfe des vorangegangenen Tages fortzuführen. Die Morgenstunden – „moosgrün“ ist dafür ein Bild – geben ihr die physische und psychische Kraft zu schreiben.
Den Blick aus dem Fenster kennen Mayröckers Leser/innen aus den Vogel Greif-Gedichten und den vielen Veröffentlichungen seither. Es ist ein poetisches Bild dafür, wie sie mit der Welt außerhalb ihres engen Lebenskreises Kontakt sucht. Der Blick aus dem Fenster öffnet zwar nur einen engen Wirklichkeitsausschnitt, ist aber eigentlich mehr als alles andere ein Blick in das Innere der Betrachterin selbst. Dort, in ihrer Sicht über die Welt und das Leben, entstehen die Erinnerungen aus einem unerschöpflichen Reservoir an Bildern, Gefühlen und Gedanken. Der Blick nach draußen erschließt einen ungeheuer weiten Raum: die Gegenwart und die Vergangenheit.
Davon leben Mayröckers Bücher: Ort und Zeit werden spielerisch überwunden, förmlich übersprungen, so dass sich vor den Leser/innen ein ganzes Leben entfaltet mit all seinen Höhen und Tiefen. da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete lässt den Leser an der Fülle und dem Reichtum dieses Lebens teilhaben: an den Erlebnissen der Kindheit, dem vertrauensvollen Verhältnis zu den längst verstorbenen Eltern, vor allem zur Mutter, und an der unauslöschlichen Liebe zu dem Freund von einst.
Man darf bei vielen „du“-Anreden im Buch an Ernst Jandl denken, mit dem Friederike Mayröcker von 1954 bis 2000, Jandls Todesjahr, zusammenlebte. Auffällig ist zwar, dass die „EJ“- oder „Ely“-Namen nur noch an wenigen Stellen direkt vorkommen. Und es tauchen in den Texten Sätze auf, die andeuten, dass die Erinnerungen an „EJ“ langsam verblassen:
Liebling tief verschleiert verschlossen entschlafen, meine Hand mein Mund, suchen nach dir ..…die Erinnerung liebliche, das Moos mit bloszen Füszen, das Moos, ich habe dieses Buch verzückterweise.
4.3.18, allmählich,
wischte : verwischte
Liebling’s Sprache,
Aber immer sprechen solche Zeilen wie viele andere auch von der nie vergehenden Liebe zu dem Gefährten von „damals“. Diese Liebe ist mit Mayröckers Leben für immer untrennbar verbunden:
ach wie Kirschen aus deiner Kehle ach Schwarm
v.Kirschen, ich denke immerzu an dich und
lese deine Gedanken in endloser Andacht,
Das Leben ohne den Freund ist ein Leben voller Melancholie, Traurigkeit, Einsamkeit und auch der Angst, sich allein in der Welt nicht mehr zurechtzufinden. Aus dem glücklichen Leben zu zweit sind bloße Erinnerungen geworden. Diese sind zwar eine Quelle für Kraft und Glück, aber eben nur Erinnerungen. Das vorliegende Buch beschwört solche Erinnerungen an gemeinsame Abendstunden, Reisen nach Berlin oder Italien oder Urlaube in Rohrmoos herauf. Es scheint, als klammerte sich die Autorin an diese Erinnerungen wie an etwas, das ihr Halt verspricht. Wirklich verdrängen können sie das Gefühl der Einsamkeit dennoch nicht: „weh mir immer suche ich in den Träumen nach dir immer gehst du mir in den Träumen verloren weh mir immer die Nächte zu lang“.
Die Erinnerungen umfassen nicht nur das Leben mit Ernst Jandl, sondern auch andere Lebensstadien und -bereiche, vor allem den Ort D., in dem Mayröcker als Kind oft die Sommermonate verbrachte. Deinzendorf, in der österreichischen Region Weinviertel gelegen, hat für sie eine besondere Bedeutung. Es hat ihr eine behütete Kindheit ermöglicht, die längst unwiderruflich verloren ist. D. ist zu einem Sehnsuchtsort und Ort der Träume geworden.
Der Blick aus dem Fenster, der im Titel des Buches präsent ist, wird in einem Satz auf der Buch-Rückseite aufgegriffen und durch Kursivdruck und Ausrufezeichen herausgehoben: „meine Texte entstehen durch sich fortpflanzende Augen!“
„Sich fortpflanzende Augen“ sind ein Wunder. Mayröckers Dichtung kann auf solche wundersame Augen mit Zuversicht bauen. Noch in einem anderen Zusammenhang taucht das Wort „Auge“ auf: als letzter Eintrag im Buch mit dem abschließenden Datum 3.11.19. Es heißt dort – diesmal weniger tiefschürfend, eher augenzwinkernd-ironisch: „weh mir : mein Augé,“
Wenn man den „Schlusssatz“ laut mit der Betonung auf dem „é“ liest, zeigt sich seine komische Seite. Einiges, was im Buch melancholisch-schwer und schmerzlich wirkt, wird durch dieses Sprachspiel mit einem Male „leichter“. Es ist allerdings ein schillernder Schlusssatz. Wenn er ernst genommen wird, wird seine dunklere Seite sichtbar: die lautliche Verbindung zwischen „Augé“ und „weh“.
Der Titel des Buches hat neben seiner inhaltlichen Bedeutung noch eine weitere Funktion. Seine merkwürdige sprachliche Form verweist auf eine wichtige Seite Mayröcker’schen Schreibens. Es ist stark rhythmisch geprägt und verlangt eigentlich, dass die Texte laut gelesen werden. Unvollständige Sätze, grammatische Freiheiten jeglicher Art, Sprachspiele mit lautlichen Elementen und eine eigenwillige Komma- und Satzpunktsetzung sind einige ihrer charakteristischen Schreibformen. Dazu kommen Einrückungen ganzer Absätze, Groß- und Kursivschreibungen, auffällige Klammersetzungen und verschiedene Zusätze zu den Datumsangaben, die das Schrift- und Druckbild der meist ein bis zwei Seiten langen Texte prägen.
Diese Schreibweisen und Druckdarstellungen sind nicht zufällig, sondern führen zum Kern ihres Dichtens, in dem Wörter eine besondere Bedeutung einnehmen, das Spiel mit Sprache entscheidend ist und daraus das eigentliche sprachschöpferische Moment entsteht. Sie möchte „die Worte als Worte ausstellen, ohne ihren Sinn zu entfalten.“
Wenn ein solches poetisches Programm weitergedacht wird, dann wird klar: Nicht der Inhalt eines Satzes oder eines Absatzes oder gar eines ganzen Textes sind das, worauf es Friederike Mayröcker ankommt, sondern allein die Bildhaftigkeit der Wörter und ihre Assoziationsmöglichkeiten. Über sie versucht die Autorin die Leser/innen anzusprechen und durch ihre Texte zu führen. Sie vertraut auf die Ausdruckskraft ihrer Sprache und darauf, dass die Leser/innen erspüren, wie sie mit den Sätzen umgehen müssen, nämlich frei und kreativ.
Dass Sätze nicht zu Ende geführt werden, dass Motive und Bilder aufgegriffen und wieder fallengelassen werden und andere sprachliche Freiheiten sind dann nicht etwa überraschend, sondern eher folgerichtig. Sie erschweren den Zugang zu den Texten nicht, sondern erleichtern ihn in vielen Fällen. Nicht ein irgendwie gearteter erzählerischer Zusammenhang oder ein Bedeutungskern müssen erkannt werden, sondern „nur“ Sprachbilder, die dann allerdings zu dem Wesentlichen führen: zur Welt der Autorin selbst, die den Leser/innen mit ihren Texten an ihrem „vollen Leben“ teilnehmen lässt. Die Leser/in Mayröcker’scher Texte ist die souveräne Leser/in schlechthin. Und ein paar tröstende Worte hält die Dichterin für sie auch bereit:
verehrte Lauscher und Lauscherinnen versu-
chen Sie nicht das Geheimnis dieses Textes
zu lüften
Hinter den Sprach- und Zeichensetzungsbesonderheiten steckt darüber hinaus noch mehr. Indem dadurch ein besonderer Lesefluss erzeugt, fast erzwungen wird, werden Rhythmus und Sprach-(oder Sprech-) Melodie zu wichtigen Textelementen. Nicht zufällig schreibt Mayröcker einmal neben das Datum:
komponiert zwischen 4. –
20.2.18 ich habe das
gesehen in der
Dämmerung (nämlich)
gehört mit diesen Faun’s
Ohren, ach!
Mayröcker liebt nicht nur Musik und verehrt zahlreiche Komponisten, sondern sieht sich auch selbst als jemand, der Sprachteile erfindet und so zusammensetzt, dass daraus ein Sprach-„Stück“ entsteht. Wie sie Wörter innerhalb eines Textes miteinander verbindet, in verschiedenen Texten auftauchen lässt und so ein Netz aus Wörtern darüber legt, Wörter und Passagen aus verschiedenen Büchern miteinander verknüpft, mit manchmal offensichtlichen, zuweilen auch geheimnisvollen, nicht immer enträtselbaren Zeilen, ist große Sprachkunst. Nichts in den Texten ist, auch wenn es so scheint, zufällig; alles ist kalkuliert. Mayröcker „komponiert“ grandiose Dichtung.
Im vorliegenden Buch macht ein Text Mayröckers Nähe zur Musik besonders deutlich. Sie erinnert darin an einen Freund und ehemaligen Mitstreiter in der Wiener Gruppe der 1950er Jahre, an Gerhard Rühm. Vielleicht verkörpert er für sie den Idealfall eines Künstlers. Er überschreitet in seinem Werk die herkömmlichen Grenzen zwischen den Sparten der Kunst, ist in der Musik zu Hause wie in der Literatur und der bildenden Kunst, hat immer Grenzziehungen der Kunst misstraut, intermedial gearbeitet, war – Stichwort: Konkrete Lyrik – ein Sprachschöpfer und in vielfacher Beziehung ein Neuerer der Künste. Mayröcker zeigt, welche emotionalen und kreativen Kräfte Rühms Musik in ihr freisetzt. So verbindet sie mit ihm das Wort „Sehnsucht“ und schreibt vom Gras, das seine Musik „sprieszen“ lässt:
auf jenem Foto sasz er KLAVIERSPIELEND so weit vom Instrument entfernt dasz man auf der Zunge das Wort Sehnsucht.“
„dasz […] es ihm gelang sein Instrument zu bespielen, alles (überall) so feucht da sprosz das Gras durch die weisze Tischdecke hindurch,
Gerhard Rühm mit seinem spartenübergreifenden künstlerischen Schaffen und seinen radikal-künstlerischen Konzepten führt zu einem weiteren Aspekt, der für das Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete charakteristisch ist: Zahlreiche Texte erwähnen Gemälde, die Mayröcker als Schriftstellerin beeinflusst und über viele Jahre begleitet haben.
Der Bezug auf bildende Künstler/innen ist in Mayröckers literarischem Werk nicht neu. Schon immer spielten Kunstwerke darin eine herausragende Rolle. So gibt es einfühlsame „Bildbeschreibungen“, die aus dem Bild etwas ganz Neues machen: ein eigenständiges Kunstwerk; es gibt Gedichte zu Bildern und Text-Zyklen zu Ausstellungen befreundeter Künstler/innen. Und es überrascht nicht, dass sich diese wiederum umgekehrt vom dichterischen Werk inspirieren lassen und dazu spannungsreiche Bilder schaffen.
Die Fülle der Namen von bildenden Künstler/innen und die zahlreichen Hinweise auf Bilder im vorliegenden Buch überraschen aber dennoch. Es scheint, als brauche Mayröcker die Anregungen über das Anschauen von Kunstwerken im Alter mehr denn je, als gewinne sie gerade aus dem Blick auf Kunstwerke jetzt, da ihr Alltag anstrengender und beschwerlicher wird, inspirierende Kräfte, als drängten sie die Bilder regelrecht hin zum Schreiben und öffneten in ihr einen kreativen „Sprachfluss“. Es ist nicht verwunderlich, dass sie schreibt: „die Kunst ist mein alles“ und „wäre am liebsten; ein Maler gewesen“.
Antoni Tapies ist – natürlich!, möchte man sagen – unter denen, die sie erwähnt und über die sie schreibt und dessen „kleine Schere“ auf einem seiner Bilder in vielen Texten des Buches, auch als hingekritzelte Zeichnung, auftaucht. Die unscheinbaren, kleinen Dinge, die nicht sofort ins Auge fallen, sind für Mayröcker besonders wirksam und interessant.
Bilder von Fernando Botero werden mehrmals erwähnt:
seine Mündchen winzige rosa Mündchen INMITTEN V.MONDGESICHT, usw., ich habe mich in diese Mündchen : rosa Knospen v.Mündchen verliebt, ich habe mich in seine : in Botero’s Dissonanzen verliebt, mit Papageien was soll es denn sein? Ich möchte seine Mündchen : Paradiesgärtchen aufsperren : küssen, mit verborgenen Zungen umarmen,
Die Zeilen sind eine genaue Beschreibung der rundlichen sinnlichen Frauengesichter des großen kolumbianischen Malers: „Mondgesicht“, der Mund als „Knospe, der Mund als „Mündchen“ und der Papagei sind anschauliche „Übersetzungen“ der Sprache Boteros in Mayröcker’sche Sprache. Vor allem aber spiegelt die liebevolle Beschreibung der Botero-Gesichter deren freundliches Lächeln und liebliches Aussehen wider.
Ähnlich inspiriert und sprachlich wundersam geht Mayröcker mit anderen Künstler/innen um. Drei Namen seien beispielhaft genannt: Man Ray, Stefan Fabi und Martha Jungwirth. Man Ray nennt sie ihren „Phantasiefreund“, ihr „alter ego“, und erwähnt seine Arbeiten, besonders sein Bügeleisen mit Nägeln, mehrmals in ihrem Buch. Stefan Fabi, der junge italienische Maler, wird zweimal mit dem Satz zitiert, der eine große Nähe zu Mayröckers Sprache offenbart: „sende auch du mir, leuchtende Sätze nach welchen ich malen kann“. Und in einem anderen Text, dem sie die Überschrift die 4 Lebensalter (inmitten Vogelnatur) gibt, kommt ein Absatz vor, der eine Beschreibung des Bildes von Fabi ist, in dem sich Farbtöne und geometrische Formen miteinander verbinden und ineinander verschränken, so dass sie kaum unterscheidbar werden:
in den Farben v.grün und blau und gelb und rot, und schwarz, ach die Farbe der Kindheit sei rot gewesen, die Farbe des Adoleszenz grün und blau gewesen, indes die ockerfarbenen Schatten der Zugvögel (welche am Ende des Sommers, nach dem Süden ziehen), […] endlich ins Schwarze! vielleicht eine corona! nämlich der Anfang einer neuen Jahreszeit etwa der Winter etwa der Tod!
Martha Jungwirths Arbeit Das trojanische Pferd wird 2019/20 im Rahmen der Ausstellungsreihe Der Eiserne Vorhang in der Wiener Staatsoper gezeigt. Zu dem Bild gibt es im Buch eine ausführliche Darstellung, die selbst zu einem überzeugenden Kunstwerk mit dem Titel Das trojanische Pferd wird. Schon der erste Satz „übersetzt“ das sperrige „skelettierte Pferd“ der Künstlerin in ein ängstigendes Sprachbild und beschwört aus den Tiefen der Geschichte ein blutiges Troja herauf:
bist Historie : bist Bluthund bist blutiger Hund bist Historie, es fiel mir ein als Blitz beim Erwachen es brüllte los (verdammt : es brüllte los) […] bist faule Birne / Brennesseltheater / bist faule Birne mit schielendem Aug! wie abstoßend : das Euter dieses Pferds : abstoßend wie die ganze Historie
Die kunstvolle Darstellung erreicht ihren Höhepunkt in der Identifizierung der Ich-Schreiberin mit dem „trojanischen Pferd“:
muszt hinhocken und hocken muszt dir zerfransen das wüste Hirn usw., bin etwa selbst ein trojanisches Pferd, dergleichen hat es wirre Mähne, bin Krüppelchen bin Historie,
Die Kunstwerke in ihrer perfekten, zeitlosen Form suggerieren eine Lebendigkeit und Dauerhaftigkeit, die trügerisch ist. Friederike Mayröcker – „ich Debütantin des Todes“ – weiß um die andere Seite jeglicher Existenz: die zunehmende Vereinsamung im Alter, den allmählichen Verfall des Menschen und den nahenden Tod. In den Zitaten zu Stefan Fabi und Martha Jungwirth wird die Doppelseite des Lebens, die Lebenslust auf der einen, die Gebrechlichkeit auf der anderen Seite, in bittere Worte gefasst.
Mayröcker ist in ihrem großen literarischen Werk den Fragen nach dem Ende des Lebens nie ausgewichen. Sie hat sich ihnen mit ihren immensen sprachlichen Möglichkeiten gestellt, hat den Tod verflucht und verdammt, sich seiner bedrohlichen Nähe mit Hilfe ihrer Sprachkunst „entgegengestemmt“ und immer wieder die Schönheiten des Lebens gefeiert und gepriesen, als wolle sie auf diese Weise den Tod für alle Zeiten überwinden. Ihre Stimme, so entsteht der Eindruck, ist in dem vorliegenden Buch gefasster und „ruhiger“ geworden. Eine große Melancholie und Hoffnungslosigkeit liegen wie ein grauer Schleier über manchen Texten. Bereits am Anfang des Buches heißt es:
Der Sommer fortgeflogen die Schwalben fortgezogen sie hatten nämlich den Himmel über dem Krankenhausgarten besungen sie waren Geschwister meine Geschwister, um ihre Brust gegürtet eine zärtliche Leine,
Schwalben mit ihren anmutigen, schnellen Flugbahnen sind in Mayröckers Werk von jeher Symbole des Lebens, der Liebe, der Zuversicht. Dass sie – und ähnliche Textstellen kommen im Buch häufig vor – „fortgeflogen“ sind, hat symbolische Bedeutung: Die Boten des Glücks werden seltener.
Mit Tränen, „o weh“-Ausrufen, mit Sätzen, die vom Einnicken beim Schreiben handeln, und Wörtern wie „Verwahrlosung“, „Fäulnis“, „elend, „verwildert“ und – die Schriftstellerin hat keine Scheu vor saloppen, selbstironischen Tönen – „verknautscht“ und „lousy“ versucht sie, ihre schwächliche körperliche und seelische Situation darzustellen. Am auffälligsten aber ist der Ausdruck „verwüstet“. Er vor allem rückt die Beschwernisse ihres hohen Alters in den Blick. Er erinnert entfernt an T. S. Eliots Langgedicht The Waste Land, das Mayröcker in ihrem Gedicht Bomben auf Bagdad (2003) – dort in Großbuchstaben – verwendet. „Verwüstet“ bedeutet Zerstörung, Unfruchtbarkeit, Chaos, letztlich Leere und Zukunftslosigkeit.
Einige der Texte dieses Buches sind wenig tröstlich. Am dunkelsten ist vielleicht die Zeile, die zweimal kurz, schlaglichtartig auftaucht: „(rittlings ins Grab)“. Sie ist dem Schluss des Stücks Warten auf Godot von Samuel Beckett entnommen. Dort heißt es : „Sie gebaren rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht. […] Die Luft ist voll von unseren Schreien.“ An keiner Stelle ihres bisherigen Werks hat Mayröcker desillusionierter und düsterer über die Existenz des Menschen geschrieben. Aber das Wenig-Tröstliche und Tief-Melancholische sind nicht das letzte Fazit in da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete.
Mayröcker besitzt ihre vielfältigen Erinnerungen an ihren Lebenspartner und Freund, lebt in ihren Erinnerungen an ihre Kindheit, hat die Blumen und Schwalben und hat die Kunstwerke, die sie bewundert. Daraus schafft sie Sprachbilder, die berühren und in Erstaunen versetzen. Wer so spielerisch-kreativ mit Werken von – nur zwei Beispiele – Man Ray und Cy Twombly umgeht und sie sich so unnachahmlich zueigen macht, zeigt, dass er in vielerlei Hinsicht jung geblieben ist und Alter und Schicksal trotzt.
Vor allem aber besitzt Mayröcker etwas, das ihr „das ungeheuerliche Rasen der Zeit“ und kein Schicksal wegnehmen können: ihre „vielgeliebte Sprache“.
Allseits Fäden, v.Malerei, meine Erfahrungen
zu erfühlen oder zu hexen ich meine zu he-
xen : ich schmecke diese Erfüllung v.Sprache,
Sie betont, dass Schreiben ein „Hexen“ sei, dass sie es mit einer „verwunschenen“ Sprache – so an einer anderen Stelle – zu tun habe. Sie redet also von eher geheimnisvollen Vorgängen beim Schreiben, die sie kaum in Worte fassen kann, die auch für sie überraschend sind und nicht erläutert werden können. Sie führen aber – und das ist das Entscheidende in den Zeilen oben – zur „Erfüllung v.Sprache“.
Gegen Ende des Buches stehen Sätze, die zeigen, wie untrennbar „Weiterleben“ und Schreiben-Können für die Dichterin verbunden sind:
ein rosa Wölkchen am Morgenhimmel wie kl.geballte Faust ein wenig mein rechter Fusz wie er hingeleitet auf deiner prüfenden Hand […]. Dieses Leben : ein Happening, sagst du, […] in endloser Andacht, hoffe das Schreiben will vonstatten gehen,
auf Zehenspitzen, musz das Proem trippeln, weiszt du, und zirpend! ach die Nachahmung des Schönen, Täuflinge sind wir des Regens, der neue Frühling……
Dass Mayröcker als „Täufling des Regens“ dennoch einen „neuen Frühling“ vor sich sieht, ist eine optimistische Haltung.
Man darf mehr denn je auf das nächste Buch gespannt sein. Denn wer außer Friederike Mayröcker kann so wundervolle Texte über die Liebe schreiben wie den folgenden:
Bertolt Brecht schrieb ein schönstes deutsches Gedicht über eine weisze Wolke und ein siebtes Kind welches ich oft beweint. Es war eine weisze Wolke welche sich auflöste während er eine Frau beschlief in einer Wiese, an jenem Tage als ein Mann den Mond betrat schlief ich in einer Wiese mit einem Mann dessen Brust, eine zarte Leine umspannte, aus dessen Munde ein feines Gras,
in einem Fiebermonat, 28.9.17
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