Nuancen von Sklaverei und Freiheit

Esi Edugyan verbindet in „Washington Black“ Abenteuer-, Forscher-, Künstler- und Sklavenroman

Von Sandra FolieRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Folie

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Ich-Erzähler und Protagonisten wurde von seinem ersten Master der Name George Washington („Wash“) Black gegeben, weil er in ihm angeblich „die Geburt einer Nation erblickte, einen Krieger und Präsidenten, ein Land der Wonne und Freiheit“. Diese Verhöhnung entpuppt sich im Laufe der Handlung, die sich über sechs Jahre (1830–1836) und drei Kontinente (Nord-/Mittelamerika, Europa und Afrika) erstreckt, in gewissem Sinne als Prophezeiung. Aus dem Sklavenjungen auf einer Zuckerrohrplantage in Barbados wird ein gebildeter ‚freier‘ Mann, Forscher und Künstler, der die Welt bereist. Die Freiheit präsentiert sich Wash jedoch als schlüpfriges Konzept, das für ihn, selbst nach dem Tod seines Sklavenhalters und der Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien, nie ganz Realität wird.

Der Roman beginnt mit Washs Kindheit auf der Faith-Plantage, wo er zahlreiche Gräuel miterlebt. Die Sklav*innen werden verstümmelt, gezwungen Kot zu essen, lebendig verbrannt, „mit der Peitsche in Fetzen gerissen oder in den Bäumen über den Feldern gehängt oder erschossen“. Dieser Einstieg ist, ebenso wie die Ich-Erzählsituation und die überwiegend chronologische Schilderung der Ereignisse, nicht ungewöhnlich für das vor allem in der amerikanischen Literatur populäre Genre der neuen Sklav*innenerzählung (neo-slave narratives), das sich mit Titeln wie Margaret Walkers Jubilee (1966; dt. Flieht wie ein Vogel auf eure Berge) und Alex Haleys Roots (1976; dt. Wurzeln) etablierte und mit Toni Morrisons Beloved (1987; dt. Menschenkind) einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Zeitgenössische fiktionale Werke, die in der Ära der Sklaverei spielen, wie Colson Whiteheads Underground Railroad (2016; dt. 2017) und Yaa Gyasis Homegoing (2016; dt. Heimkehren, 2017), erleben seit einigen Jahren wieder eine Renaissance. Washington Black, das 2018 zu Barack Obamas Lieblingsbüchern zählte und mit dem kanadischen Giller Prize ausgezeichnet wurde, schließt an diese wichtigen und (nicht nur) literarisch ambitionierten Romane an.

Eine Besonderheit von Esi Edugyans Roman liegt darin, dass er nicht in erster Linie die Geschichte eines ehemaligen Sklaven vor, auf und nach seiner Flucht erzählt, sondern die fiktive Biografie eines intelligenten, mathematisch und künstlerisch begabten jungen Mannes, der das Pech hatte, als Sklave geboren und gebrandmarkt zu werden, dem aber auch das Glück zuteil wurde, frühzeitig ein zweites Leben beginnen zu können. Nachdem er in die – für einen Schwarzen Feldsklaven – privilegierte Situation gerät, dem Bruder seines Masters, Christopher Wilde („Titch“), beim Sammeln und Dokumentieren der Fauna und Flora von Barbados und bei der Konstruktion eines „Wolkenkutters“ zu assistieren, entdeckt er seinen eigenen Schaffensdrang und sein Talent für das Zeichnen: „Und plötzlich wusste ich, was ich wollte – was ich unbedingt wollte […]. Ich wollte mit meinen Händen eine Welt erschaffen können.“

Seine mit dieser Stellung verbundenen Privilegien sondern Wash, dem Titch neben mathematischen, naturkundlichen und technischen Kenntnissen auch das Lesen beibringt, jedoch auch von den anderen Sklav*innen ab – im Besonderen von Big Kit, seiner bis dato engsten Bezugsperson (und, wie er Jahre später erfahren wird, seiner Mutter). Für sie alle war er „von der Welt des weißen Mannes geschluckt worden“. Forschung und Kunst schenken Wash zwar „etwas Existenzielles, etwas Beruhigendes“, versetzen ihn aber gleichzeitig auch in die größte innerliche Unruhe, da sie ihm einmal mehr „die rohe, brutale Ungerechtigkeit des Ganzen“ vor Augen führen und ihn Scham, Wut und Schmerz empfinden lassen.

Washs privilegierte Position auf der Plantage entbindet ihn nicht gänzlich von der Ungerechtigkeit und Willkür der Sklaverei. Bei einer Explosion des Luftschiffes erleidet er schwere Verletzungen, weil ihn Mister Philip, der Cousin der Wildes, während einer probeweisen Inbetriebnahme nach Essen ausschickt und dadurch in große Gefahr bringt. Nicht nur, dass aufgrund dieser Nachlässigkeit Washs Gesicht verbrannt und bleibend entstellt wird, Philip zwingt ihn auch noch dazu, seinem Selbstmord durch Erschießung beizuwohnen: „Er [Philip] hatte erklärt, dass ihm die Sache mit meinem Gesicht leidtäte; so anständig diese Geste gewesen war – gleich darauf hatte seine Tat mein Leben heillos zerstört und alle Anständigkeit untergraben. Trotz meines Alters wusste ich ohne jeden Zweifel, dass sein Tod den meinen bedeuten musste.“

Titchs Aufenthalt auf der Plantage seines Bruders dient keinem rein wissenschaftlichen, sondern auch einem politischen Zweck. Er arbeitet an der Auflistung der Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die Körper und Geist der versklavten Neger auf einer Barbados-Plantage der Westindischen Inseln zugefügt werden und flieht gemeinsam mit Wash in seinem Wolkenkutter. Dadurch schenkt er ihm sein drittes Leben: Die fragile ‚Freiheit‘ des Geflüchteten. Die beiden werden nach erlittenem Luftschiffbruch von einem Handelsschiff nach Virginia mitgenommen, wo bereits ein unverhältnismäßig hohes Kopfgeldgesuch für Wash zirkuliert. Alsdann reisen sie weiter in die Arktis, um Titchs vermeintlich verstorbenen Vater, einen berühmten und exzentrischen Wissenschaftler, ausfindig zu machen. Wash merkt, dass dieser zwar sein Talent anerkennt, nicht jedoch seine Menschlichkeit: „Ich spürte gleichzeitig seine große Ehrfurcht und den Hohn, als sähe er irgendeiner gefühllosen Kreatur dabei zu, wie sie eine unnatürliche Tat vollbrachte, als hätte eine Treibhauspflanze plötzlich zu sprechen gelernt.“

Als Titch Wash im Camp in der Arktis zurücklässt, ist dieser erstmals auf sich alleine gestellt und beginnt – abermals – von vorne. Dieses Mal in Nova Scotia, Kanada, wo keineswegs die vielfach angepriesene „goldene Existenz in Freiheit“ auf ihn wartet: „Denn eine Kreatur wie ich konnte nirgends jemals hingehören: ein entstellter schwarzer Junge, der über ein Interesse an der Wissenschaft und ein Talent für die Malerei verfügte“. Er wird nicht nur wieder mit „der Brutalität des weißen Mannes“ konfrontiert, sondern auch mit der beinahe ebenso abstoßenden „Art, wie Schwarze sich gegenseitig behandelten […]; als wollten sie die Grausamkeit, die sie erlitten hatten, nun doppelt ihren Brüdern zurückzahlen.“

Inmitten von Armut, Brutalität, harter körperlicher Arbeit und Einsamkeit findet Wash wieder zur Malerei und dem „intensive[n] Gefühl der Freiheit“ und Vollständigkeit zurück, das diese ihm zu verschaffen vermag. Bei seinen frühmorgendlichen Malausflügen an die Küste lernt er die schöne Tanna kennen, die er zunächst, weil sie alleine unterwegs ist und Hosen trägt, für einen Mann hält. Es stellt sich heraus, dass sie die Tochter eines seiner großen Vorbilder, des berühmten Meeresbiologen G. M. Goff, ist: „spitzzüngig und brillant und gleichzeitig unterdrückt, diesem egozentrischen Mann nichtsdestoweniger treu ergeben“. Zwischen den Dreien entwickelt sich eine produktive Arbeitsgemeinschaft – sie planen u.a. die erste Ozeanausstellung mit Lebendtieren –, über die sich jedoch, ebenso wie über die aufkeimende Liebe zwischen Wash und Tanna, der Schatten der Sklaverei legt.

Goff, obgleich kein vorurteilsbeladener Mann, hat das Bedürfnis, „sein eigen Fleisch und Blut zu schützen“ – weniger vor Wash selbst als vor dem Stigma der Sklaverei, das diesem unübersehbar anhaftet, und das auch seine Tochter, die gerade hell genug ist, um als Weiße ‚durchzugehen‘, in Mitleidenschaft ziehen könnte. Tanna hingegen betrachtet ihren Geliebten als Ausnahmeerscheinung, der nie ein Sklave sein könnte, und spricht von der Sklaverei, „als hätte man eine Wahl. Oder eher, als handle es sich um eine Frage des Temperaments. Der eigenen Persönlichkeit. Als gäbe es solche, deren Natur sie zu Sklaven macht, und andere, bei denen es nicht so ist. Als wäre die Sklaverei etwas anderes als ein sinnloser Gräuel. Als pure Grausamkeit.“

Ebenso wenig wie die Liebe bietet die Wissenschaft einen Ausweg. Obgleich sowohl Titch als auch Goff bereit dazu sind, Wash als Illustrator ihrer reich bebilderten naturkundlichen Abhandlungen namentlich zu nennen, erweist sich das wissenschaftliche Milieu nicht als objektiver „Gleichmacher“, der über ‚Rasse‘, Geschlecht und Glauben hinwegsieht. Wash muss einsehen, dass die Fakten von manchen nach Belieben „korrumpier[t] und missbrauch[t]“ werden und dass „als Vater des Ozeanhauses [nie] ein geringfügiger, entstellter schwarzer Mann gefeiert werden“ würde. Gleichgültig, ob es nun seine Idee und seine Geschicklichkeit waren, die es Wirklichkeit werden ließen, oder nicht.

Dass sich Washington Black trotz der über 500 Seiten schnell und flüssig liest, ist nicht zuletzt auch das Verdienst der Übersetzerin Anabelle Assaf. Bis auf einige holprige Stellen im ersten Teil des Romans, wo versucht wurde, den Dialekt der Sklav*innen in eine Art ‚gebrochenes‘ Deutsch zu überführen – z.B. „Sie essen, bevor es dunkel […]. Beeilt euch. Ihr sie nicht warten lasst.“ – überzeugt die Übersetzung mit lebendigen Dialogen und einem bunten abwechslungsreichen Vokabular. Der Roman erinnert somit nicht nur aufgrund seiner abenteuerlichen Reisen – der Luftfahrt im Wolkenkutter, dem Segeln und der Hundeschlittenfahrt in der Arktis, der Tauchexpedition an den Meeresgrund und der Kutschfahrt bis an den Rand der Sahara –, sondern auch stilistisch an Jules Verne.

In diese handlungsreiche Leichtigkeit verpackt Edugyan jedoch kunstvoll sehr viel ‚Schweres‘: Allem voran die vielen Nuancen von Sklaverei und Freiheit. Die Frage danach, wo und wann diese Zustände für wen beginnen oder aber enden können und warum das so war und teilweise immer noch so ist. Gerechtigkeit, so zeigt die fiktive Biografie Washington Blacks, lässt sich nicht unabhängig von jenen Machtgefügen denken, die ihre Möglichkeit überhaupt erst bedingen: „Das Unheil, das er [Titch] anrichtete, lag […] in seiner Unfähigkeit, zu erkennen, dass er dazu immer noch die Macht hatte.“ Washs Urteil über Titch, der ihm zwar ein neues Leben geschenkt, ihm aber auch von einem Tag auf den anderen seinen Schutz, seine Kameradschaft und letztlich auch die Freiheit, den eigenen Weg selbst zu wählen bzw. über das eigene Schicksal selbst zu entscheiden, entzogen hatte, liest sich wie ein Appell, weiße Vorherrschaft und die damit verbundenen Privilegien zu hinterfragen. Insbesondere dann, wenn sie nicht da zu sein scheinen.

Titelbild

Esi Edugyan: Washington Black.
Aus dem Englischen von Anabelle Asaaf.
Eichborn Verlag, Köln 2019.
512 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783847906650

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