Es leben die Ängstlichen wie die Anarchischen!

Giulia Caminito verquickt in „Ein Tag wird kommen“ Familiensaga und italienische Zeitgeschichte

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Familie der Ceresa zieht das Unglück an. Gnadenlos schlägt es bei den Geburten zu, lässt die Kinder sterben „wie Schmetterlinge am Abend“. Das Ganze geschieht in Serra de‘ Conti, einem „Ort der Habenichtse“, in dem „nur Kinder, Gebrechliche, Priester und Nonnen“ seit Ausbruch des Großen Krieges (1. Weltkrieg) übriggeblieben sind und in dem bald auch noch die Spanische Grippe wütet. Die Betonung des familiären Unglücks vor dem Hintergrund von Armut, Tristesse und latenter Gewalt ist geschickt, weil so eine Beunruhigung im Raum steht und sich ein außergewöhnliches Familienschicksal ankündigt. Keiner hat es treffender als Lew Tolstoi formuliert, wonach alle glücklichen Familien einander gleichen, jede unglückliche Familie aber auf ihre eigene Weise unglücklich ist – weshalb ihr Schicksal für eine einzigartige Geschichte besonders tauge. Giulia Caminito könnte dieser Maxime für ihre Romankomposition bewusst oder intuitiv gefolgt sein.  

Von jenem Flecken Serra de’ Conti in den italienischen Marken springt die Handlung punktuell nach Ancona, Fano, an den unteren Piave und in den Sudan – in der offengelassenen Verlängerung der Geschichte vielleicht auch nach Amerika. Drei Protagonisten bestimmen die Handlung: Lupo und Nicola, die als vermeintliche Söhne der Ceresa-Familie zu jungen Männern heranwachsen, und Suor Clara, die als Kind aus ihrer sudanesischen Heimat entführt wurde. Sie leitet das Kloster hoch über Serra, diese Romanfigur ist der unglaublichen Biographie der realen Zeinab Alif nachempfunden: 1845 im Sudan geboren, in Italien auf den Namen Maria Giuseppina (Benvenuti) getauft, Nonne, berühmte Organistin und Vorsteherin eines Klarissinnenklosters, 1926 in Italien gestorben. Weiteres Personal tritt auf: Luigi, das mürrische Familienoberhaupt der Ceresa und leidlicher Bäckermeister, seine versehrte Frau Violante, der älteste Sohn Antonio, den ein halbblinder Bauer versehentlich erschießt, die sanfte Tochter Adelaide, die die Schwindsucht hinwegrafft und Nella, auch eine Tochter, die erst spät auftritt; ferner Don Agostino, Pfarrer in Serra und leiblicher Vater Lupos, dann Giuseppe, Großvater von Lupo, Nicola und Nella, der sich als Anarchist einen Namen gemacht hat, und schließlich der Wolfsrüde Cane, der Lupo wie einen Schatten begleitet.

In Ein Tag wird kommen fliegen nicht die Fetzen, dafür setzen die Familienmisere die Ceresas sowie die jahrhundertelange Armut und Ausbeutung die Gemeinschaft in Serra unter Spannung. Luigi lässt die Bäckerei verkommen, Violante erblindet und wird zum Pflegefall, Lupo ist anarchisch und wie sein Großvater Giuseppe bereit, für Gerechtigkeit für alle zu kämpfen, Suor Clara wirkt in unverbrüchlichem Glauben an Gott als resolute Kümmerin für ihre Kirche und alle Menschen. Nicola hingegen, „das stille Kind mit den feinen blonden Haaren“, unterscheidet sich von allen. Es gibt in diesem Milieu aber auch Wärme und Zuneigung zwischen einzelnen Menschen in Form christlicher Verantwortung und Fürsorge. Herrscht im Haus der Ceresas einerseits aggressive Trostlosigkeit, ist es anderseits der Hort der wundersamen Beziehung zwischen Lupo und Nicola. Sie sind (quasi) brüderlich verbunden, mehr noch seelisch, sie sind sich körperlich, aber nicht erotisch nah, sie sind zwei Menschen, die bedingungslos zusammengehören, wie zwei Liebende. Dabei sind sie vollkommen gegensätzlich und ihre Beziehung birgt ein dunkles Geheimnis, zu dessen Aufdeckung die Geschichte antritt und sich zur dramatischen Familiensaga ausweitet.

Die Verwicklungen korrelieren mit historischen Tatsachen der Zeit, in der die Handlung spielt. Es geht um die halbfeudale Halbpacht, die für die Schuldabhängigkeit vieler Bauernpächter, so auch in Serra, verantwortlich ist; um die Kämpfe gegen die Padrones um die Jahrhundertwende und um die damit im Zusammenhang stehende anarchistische Bewegung; ferner ist die Rote Aufstandswoche in Ancona im Juni 1914, die „Settimana Rossa“, Thema, als große Streiks in den Marken und in der Romagna das öffentliche Leben lahmlegten. Der Erste Weltkrieg spielt eine Rolle und die Einberufung des Jahrgangs 1899, zu dem Nicola gehört, und schließlich die Epidemie der Spanischen Grippe, die auch in Serra wütet.

So ist Ein Tag wird kommen auch ein historischer Roman, der die Lebensverhältnisse in den Marken in der Zeit von 1880 bis 1920 in den Blick nimmt. Zugleich betreibt die Autorin Spurensuche ihrer eigenen Herkunft. Am Ende gibt sie Auskunft, wie sie zum Romanstoff und dem Schreibvorhaben kam: Ihr Urgroßvater Nicola Ugolini stammte aus Serra, war Anarchist, ehelichte seine Frau erst, als sie von der Spanischen Grippe aufgezehrt auf dem Totenbett lag, und entschwand dann ins Ungewisse. Die Figur Lupos, durch seinen Wolf und Namensvetter Cane allegorisch gedoppelt, dürfte sich wie auch Giuseppe am realen Urgroßvater Nicola anlehnen: drei Unbedingte, die mit Leib und Seele dem Kampf um Gerechtigkeit verpflichtet sind. Mit diesem Ferment an persönlichen Anteilen sollte das Buch auch ein Buch über die Anarchisten in den Marken werden, um zu zeigen, dass es verfehlt wäre, sie als Bombenleger und sinnlos Gewalttätige zu denunzieren.

Indessen bietet der Roman keine verlässliche historische Zeugenschaft, weil es nicht darum geht wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, was genau sich in Serra damals abspielte, was Suor Clara widerfuhr oder Nicola als Soldat an der Piave-Front erlebte. Vielmehr werden das Zeitkolorit der Marken und der Deprivation um die Jahrhundertwende konkret, als sich Italien in einer profunden Kirchen- und Staatskrise befand, der Weltkrieg Hunderttausende Opfer forderte, die fatale Grippeepidemie wütete und das Land am Rand des Kollapses stand. Und wie sich in dieser Gemengelage die totalitäre Kraft der italienischen Faschisten zu formieren beginnt. All das in eine spannende Geschichte einzuweben, die auch noch tagesaktuell gelesen werden kann, ist große Schreibkunst.

Caminitos Sprache ist zurückhaltend und nicht pathetisch. Wie gelungen die Übersetzung von Barbara Kleiner gemessen an der Sprachkunst des italienischen Originals ist, muss offenbleiben, der deutsche Text aber liest sich hervorragend. Stilistisch raffiniert reihen sich elf Kapitel, über denen jeweils ein lyrisch anmutender Satz als Überschrift steht (das Inhaltsverzeichnis gleicht einem monologischen Zwiegespräch!), nicht zu einer zeitlich linearen Erzählfolge, sondern sie sind durch zeitliche Sprünge verfugt. Das Ende bleibt offen, aber niemand wird unbelohnt über den möglichen weiteren Verlauf der Helden herumrätseln. In der Bewusstseinsform des Romans rekonstruiert die nachgeborene Autorin ein Stück Familien- und italienische Geschichte. Um was sich der Roman kümmert, ist, mit Erich Auerbach gesprochen, das Dasein von Menschen, konkret das von Nicola, Lupo und Suor Clara. In ihrem Dasein liegt eine Möglichkeit von uns selbst.

Titelbild

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
272 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133250

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