Wald, Wein und wundersame Figuren

Rye Curtis‘ sehr beeindruckendes Debüt „Cloris“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ich-Erzählerin Cloris Waldrip benennt gleich auf der ersten Seite dieses vielleicht verblüffendsten Erstlingswerkes dieses Jahres, worum es in Cloris auch geht: „Es ist schon erstaunlich, dass eine Frau den Herbst ihres Lebens erreichen kann, nur um festzustellen, dass sie sich selbst bislang im Grunde nicht recht gekannt hat.“ Oder um es anders zu formulieren: auch mit über 70 kann man sich (und andere) noch gehörig überraschen. Eben jene Titelheldin berichtet mit 20 Jahren Abstand vom Spätsommer 1986, als sie mit ihrem Mann Richard, den sie Mr. Waldrip nennt, und einem jungen Piloten namens Terry mit dessen Cessna über den Bitterroot Mountains abgestürzt war. Beide Männer überlebten das Unglück nicht. Das ist Rye Curtis‘ Ausgangssituation für seinen Roman, der von einer zweiten ungewöhnlichen Frau handelt, der Forest Rangerin Debra Lewis. Lewis lebt seit elf Jahren in einer Hütte im Wald, von der aus sie ihre Kontrollfahrten macht und ihr Revier im Blick behält.

Während Cloris Waldrip dieses extrem dramatische Ereignis irgendwie verarbeiten muss, füllt Debra Lewis ihre Thermosflasche immer wieder mit Merlot, den sie tagtäglich literweise trinkt. Seit sie geschieden ist – ihr Mann hatte außer ihr noch drei weitere Ehefrauen mit Familien in anderen US-Bundesstaaten – hat sie kaum noch menschlichen Umgang; ihr Kollege Claude und dessen alter Freund Pete (der sich mit den Worten „Meine Alte hat mich verlassen“ vorstellt) sind die einzigen Menschen weit und breit. Silk Food Maggie, eine verwirrte Schoschonin, lebt im Revier, angeblich soll ein Geist durch diese urwaldähnliche Region im Nordwesten der USA ziehen und der sogenannte Arizona Kisser, ein entflohener Häftling, wird auch in dem weitläufigen Gebiet vermutet. Das war’s dann schon.

Zurück zum Unfallopfer, zurück zu Cloris Waldrip, die ihre sie erst einmal komplett überfordernde Situation langsam in den Griff bekommt, die allmählich versteht, was passiert ist, und die mit praktischer Intelligenz und Hellsichtigkeit erste Schritte in Richtung Überleben angeht. Ihre Bibel, einen Stiefel ihres geliebten Mannes und ein paar Bonbons hat die ehemalige Lehrerin und Bibliothekarin aus Texas bei sich. Mehr gestattet ihr der Autor nicht, so lässt er sie in ihr größtes Abenteuer aufbrechen. Ach ja, bevor sie losgeht, schafft sie es, über Terrys Funkgerät einen Notruf abzusetzen. Und sie weiß sich zu helfen, sie erinnert sich an Kenntnisse von früheren Tätigkeiten, die ihr jetzt nützlich sind, sie versucht sich zu erinnern, was essbar und was giftig ist, sie überlegt, wie sie ihre genaue Lage bestimmen und welche Strecke sie in diesem unwegsamen Gelände bewältigen kann. Ja, Cloris Waldrip besinnt sich auf ihre Kräfte und Instinkte, sie will weiterleben, will diesen Alptraum beenden. Doch die Natur ist erbarmungslos und sie ungeübt in Sachen Survivalausflug, weswegen es immer wieder zu Enttäuschungen kommt und ihr Wille auf harte Proben gestellt wird. Besagten Notruf haben Claude und sein Freund Pete erhalten, jedoch können weder sie noch Ranger Lewis mit dem Wort Cloris etwas anfangen, wissen folglich nicht, dass es sich um eine Überlebende eines Flugzeugabsturzes handelt. Doch Lewis bleibt hartnäckig, spricht mit ihrem Vorgesetzten darüber, der letztlich einen Mann namens Bloor von Search and Rescue zu ihrer Unterstützung schickt. Mit diesem Mann, Witwer und Vater einer 17-jährigen Tochter namens Jill, verändert sich die Situation in der Rangerstation.

Als Leser dieses spannenden und sehr unterhaltsamen Romans fragt man sich, was Rye Curtis mit diesem Buch bezweckt. Klar, er will unterhalten, er erweitert das momentan wenig beachtete Genre des Abenteuerromans auf sehr überzeugende Weise, doch es scheint, als wolle er mit seinen teilweise recht deutlich überzeichneten Figuren in ungewohnter Umgebung einen scharfen Kontrast von sogenannter Normalität zu gesellschaftlicher Abweichung erzielen. Oder anders gesagt, würden all diese Personen – Cloris Waldrip einmal ausgenommen – in einer urbanen Arbeits-, Kultur- und Wohnsituation sein, würden ihre Ängste, Süchte, Defizite und Wünsche weniger deutlich sichtbar sein oder bei regelmäßigen Therapiesitzungen analysiert und temporär abgemildert. So aber sind sie beinahe komplett auf sich selbst zurückgeworfen, Rye Curtis zeigt sie in gewisser Weise nackt und ungeschützt und erweitert sein Buch somit zum Sozial- und Sittenroman.

Spannung, gekonnter Sprachwitz, detailliert beschriebene Topographie und immer wieder überraschende Entwicklungen machen Cloris zu einem fulminanten Leseerlebnis, zu einem Buch, das man vor allem wegen seiner beiden weiblichen Hauptfiguren lange im Gedächtnis behalten wird, und zu einem Debüt, das man in dieser Souveränität lange nicht mehr gelesen hat. Die abwechselnden Kapitel – Cloris spricht von sich, über die anderen Protagonisten wird in der dritten Person geschrieben – tun ihr Übriges, um Spannung und Dynamik auf konstantem Niveau zu halten. Außerdem ändert sich Cloris‘ Situation, als sie dann und wann geheime Gaben entdeckt, offenbar gibt es jemanden, der sie beobachtet – für kurze Zeit wird das Buch zum Horrorroman, was erneut des Autors Spielfreudigkeit und Kreativität manifestiert.

Cloris ist ein reiches Buch, von dessen Autor man noch einiges erwarten kann. Es ist ein Roman, dessen Frische großen Spaß macht und dessen Inhalte zum Nachdenken und Diskutieren anregen – mehr geht fast nicht.

Titelbild

Rye Curtis: Cloris. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783406755354

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