Reise zum Mittelpunkt des Nordens

„Jules Verne auf Eider und Kanal“ dokumentiert die Reise des Schriftstellers mit der Yacht Saint Michel III durch Schleswig und Holstein

Von Wolfgang BühlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Bühling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Kurzfilm des NDR-Fernsehens zeigt zwei Herren im Frack, die auf einem kleinen Boot die Eider befahren und den historischen Eider Kanal, den Vorläufer des Nord-Ostsee-Kanals ansteuern. So kompetent die eingeblendeten Kommentare des Buchautors Frank Trende auch sind, welche die historisch-authentische Reise von Jules Verne und dessen Bruder Paul auf dem Wasserweg quer durch Schleswig-Holstein im Sommer 1881 thematisieren, so naiv wirkt deren filmische Umsetzung. 

Es fängt damit an, dass auf der Tonspur ein Dieselmotor tuckert, etliche Jahre bevor es dem Erfinder erstmals gelang, seinen Selbstzünder-Versuchsmotor zum Laufen zu bringen. Die Brüder Verne waren seinerzeit auch nicht zu zweit auf einem Kleinfahrzeug vom Typus niederländischer Arbeitsschiffe unterwegs, wie es hier gezeigt wird. Jules Vernes letzte Yacht war die Saint Michel III, die er 1877 für damals sehr stattliche 55000 Francs erworben hatte. Diese herrschaftliche Yacht hatte immerhin dreiunddreißig Meter Länge über Deck, einen scharf geschnittenen Seglerrumpf mit Schonerrigg und zusätzlich eine leistungsfähige Verbund-Dampfmaschine. Allein für deren Betrieb waren ein Ingenieur und zwei Heizer notwendig. Das seemännische Personal bestand aus dem Schiffsführer, einem Steuermann, drei Matrosen und einem Schiffsjungen. Zudem wollte man naturgemäß nicht auf einen Koch verzichten. Paul Verne besaß zwar ein Kapitänspatent, zog es aber auf den zahlreichen Reisen mit seinem Bruder vor, als Passagier zu reisen. Bei der dargelegten Fahrt waren außerdem sein Sohn und ein befreundeter Anwalt als Gäste dabei.

Vorliegender Band enthält den ins Deutsche übertragenen Bericht über den Reiseabschnitt Rotterdam-Kopenhagen aus der Feder von Paul Verne. Der Literaturwissenschaftler Volker Dehs geht aufgrund einer stilistischen Analyse davon aus, dass etwa 30 Prozent von Bruder Jules noch einmal überarbeitet wurden. Der französische Originaltext wurde bereits einen Monat nach der Rückkehr im Feuilleton der Zeitung L‘Union bretonne in Folgen abgedruckt. Er erschien in Buchform noch im Reisejahr bei Hetzel in Paris; kurioserweise als Anhang an den Amazonas-Roman Die Jangada, auf Wunsch des Verlegers, wie es heißt, welcher  allerdings eine romanhafte Ausgestaltung verlangte, was Jules Verne kategorisch ablehnte.

Schon im französischen Original De Rotterdam à Copenhague, à bord du yacht à vapeur ‚Saint-Michel‘ blieb die Darstellung auf den Abschnitt der Reise beschränkt, die in Boulogne begann und in Saint Malo endete. Ursprünglich sollte die Route nach Kopenhagen durch die Nordsee und um Skagen führen. Doch als die Besatzung in Wilhelmshaven erfährt, dass ein Binnenwasserweg über Eider und Eider-Kanal zur Ostsee existiert, fällt der Entschluss, diesen zu benutzen.

Die Brüder Verne nehmen auf der Reise nicht nur die Schönheiten der Küstenlandschaften und des Binnenlands in sich auf, sie werden auch mit der aktuellen Politik konfrontiert. Im Gegensatz zur Skandinavien-Reise Jules Vernes von 1861 führt der Weg nicht mehr durch dänisch regierte Herzogtümer, sondern nach deren Annexion im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 durch Preußen und damit einen Teil des neuen Kaiserreichs. Nachdrücklich werden ihnen in den Marinehäfen Wilhelmshaven und Kiel die Rüstungsanstrengungen des Kaiserreichs zur See vor Augen geführt.

Paul Vernes Schilderung ist sicherlich kein literarischer Höhenflug. Es ging seinem Dichter-Bruder offensichtlich auch nicht darum, durch seine Korrekturen und Ergänzungen einen solchen daraus zu machen. Vielmehr handelt es sich um einen schlichten Reisebericht, in den gelegentlich humorvolle Betrachtungen einfließen, die nicht zuletzt die Person des mitreisenden englischen Lotsen Atkins betreffen, der hier mit dem Pseudonym „Pearkop“ bedacht wird. Was die Textüberlieferung angeht, folgt diese der 1881 bei Hartleben in Wien  besorgten Übersetzung, was dem Ganzen von der Diktion her einen gewissen historischen Charme verleiht. Für diese deutschsprachige Ausgabe hatte Jules Verne laut Volker Dehs schon zuvor einige deutschkritische Passagen seines Bruders, einem ehemaligen Marineoffizier, abgemildert.

Der Bericht bietet nicht nur ein Zeitbild der aufgesuchten Orte und Regionen und deren Bewohner. Er ist ein schönes Beispiel für die Reiselust und die Reisegewohnheiten des wohlhabenden Bildungsbürgertums in der Friedensperiode zwischen 1871 und 1914. Der Blick auf die Reise der Saint Michel III weitet sich in der Zusammenschau mit den Schiffsreisen, die andere Literaten in dieser Epoche unternommen haben. Von den Kanu-Wandertouren von Robert Louis Stevenson auf französischen Flüssen und Kanälen (An Inland Voyage, 1876)  bis zur Südseefahrt von Jack London (The Cruise of the Snark, 1911) spannt sich dabei – sowohl geographisch als auch hinsichtlich der benutzten Wasserfahrzeuge – ein weiter Bogen.

Paul Vernes Zeilen vorangestellt ist eine relativ ausführliche Darstellung der Geschichte des Eider-Kanals von Frank Trende, der bereits früher einschlägig publiziert hat. Trende macht  deutlich, dass die Saint Michel III im Grunde genommen eine Zeitreise durch eine historische Landschaft unternahm. Die Zeitläufe der Industrialisierung waren über das 1784 in Betrieb gegangene Kanalunternehmen hinweggegangen, seine verkehrstechnische und wirtschaftliche Bedeutung war im Dahinschwinden. Die landschaftlichen Eindrücke der Brüder Verne waren die gleichen, wie sie die Reisenden Klopstock und Seume zu Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieben hatten. Gleichzeitig erlebten Jules und Paul die Diskussionen über einen neuen Kanal, der von seinen Abmessungen den Erfordernissen der neuen Zeit, nicht zuletzt denen der Kaiserlichen Marine, dem Lieblingskind von Wilhelm II., entsprechen sollte.

Es ist kein Wunder, dass sich – angesichts der Durchquerung Schleswig-Holsteins seitens des damals schon weltberühmten Autors – regionale Institutionen und Verlage schon früher dieser Publikation als Reizthema angenommen haben. Für die Neuausgabe bei Boyens dürfte das Jubiläum 125 Jahre Nord-Ost-See-Kanal eine Rolle gespielt haben. Zu der editorischen Sorgfalt, welche zweifellos waltete, will allerdings die Reproduktionsqualität der Abbildungen nicht so recht passen, die wohl schwerlich als ausreichend bezeichnen werden kann. Es wurde zudem die Chance vertan, das von Friedemann Prose zitierte Bordtagebuch aus Jules Vernes eigener Feder, etwa als Anhang, wiederzugeben. (Friedemann Prose: Jules Verne´s Reise zum Mittelpunkt des Nordens. In: Mitteilungen des Canal-Vereins Nr. 29/30. Rendsburg 2013, S. 9–114). Und schließlich hätte man auch zur Saint Michel III mehr Informationen erwartet, nicht zuletzt Abbildungen, die als eindrucksvolle Photographien durchaus zur Verfügung stehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Frank Trende / Volker Dehs / Paul Verne: Jules Verne auf Eider und Kanal. „Die Fahrt scheint nach unbekannten Welten zu gehen.“.
Boyens Buchverlag, Heide 2020.
112 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783804215252

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