Märchenhaftes Allerlei

Venetianische Novellen und italienische Erzählungen im ersten Band der „Ausgewählten Werke“ von Franz von Gaudy, herausgegeben von Doris Fouquet-Plümacher

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Vergessen ist in der Literatur wie in allen Künsten zuverlässiger als die Erinnerung. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Furie des Verschwindens herrscht überall. Jeder Bibliotheks- oder Museumsbesuch vermittelt eine Ahnung vom Ausmaß unseres Vergessens (und erst recht, wenn wir noch all die verstaubten Archive und Depots mitdenken). Daran ändert auch das konservatorische Bemühen in unserer Kultur nichts; es bewahrt immerhin das Vergessen. Doch wie sollen wir finden, was für uns keinen Namen, keine Bedeutung mehr hat? Hier nun kommen die Kultur-Archäolog*innen ins Spiel, die das Vergessene ans Licht holen und ins Bewusstsein rücken. Aber auch Renaissancen erweisen sich nur als vorübergehend, mögen uns Ausgrabungen noch so sehr verblüffen. Nur wer es in den Klassiker-Kanon schafft, darf auf ein langes Nachleben hoffen.

Dem Schriftsteller Franz von Gaudy ist dieses Glück nicht widerfahren und das hat gewiss nichts mit seinem relativ kurzen Leben zu tun. Da starben andere jünger, um dennoch wie etwa ein Heinrich von Kleist oder ein Georg Büchner in den Klassikerhimmel aufzusteigen. Geboren wurde er 1800 in Frankfurt an der Oder und gestorben ist er 1840 in Berlin. Die Familientradition band ihn ans preußische Militär. Aber nicht das Militär interessierte ihn, sondern die Literatur. 1833 quittierte er den Dienst in der Armee, erhielt eine magere Pension und widmete sich nun ganz dem Schreiben. Den Abschied nennt er in einem Brief das Evangelio seiner Menschwerdung. Unter seinen Zeitgenossen erlangte er eine gewisse Bekanntheit und auch Beliebtheit durch ein vielseitiges erzählerisches Talent. Er wurde Bohèmien, schloss sich fortschrittlich gesinnten literarischen Kreisen an und vor allem zog es ihn in das Sehnsuchtsland der Deutschen – nach Italien.

Seine Wiederentdeckerin Doris Fouquet-Plümacher versammelte im ersten Band der mit Ausgewählte Werke überschriebenen Edition Gaudys venetianische Novellen und italienische Erzählungen. Zwei Bände mit weiterer Prosa, mit Satiren, Humoresken und Grotesken sollen folgen. Die Herausgeberin lässt bei diesem Unternehmen literaturgeschichtliche Akkuratesse walten. Ein instruktives Vorwort samt Einleitung gehört ebenso dazu wie ein Editionsbericht und nützliche, weiterführende Literaturhinweise.

Wer war dieser Franz von Gaudy? Als Zwanzigjähriger beschrieb er sich in einem Gedicht so: „Fester Glaube, lock’rer Sinn, / Nie nach Wenn und Aber fragen, / Kraft im Arm, Trotz unter’m Hut […]“. Wohl kein Haudegen, aber ein ungestümer Charakter porträtiert sich in diesen Gedichtzeilen. Er bewundert Heinrich Heine und steht stilistisch in seinem Bann, er fühlt sich in dem literarischen Zirkel der Mittwochsgesellschaft in Berlin zuhause, gilt als Napoleon-Verehrer und Preußenkritiker, wo „Nur Luft und Wasser steuerfrei, / Und glücklich nur die Todten“ seien. Kein Geringerer als der Revolutionär und politische Dichter Georg Herwegh bezeugte in seinem Nachruf auf Gaudy den kämpferischen Poeten. Fürwahr kein schlechtes Zeugnis. Doch wie steht es um das Poetische im Werk jenes freiheitsliebenden Kämpfers? Heines Urteil mischte einen Zweifel darunter, denn Gaudy habe „für seine Gebilde keinen festen Boden, sie stehen in der Luft“.

Was Heine auf die Gedichte bezog, scheint gelegentlich auch der Prosa zu fehlen: die Bodenhaftung. Und das ausgerechnet im Fall der sonst so ausgiebig zelebrierten Italienbegeisterung. In der Erzählung Der Deutsche in Trastevere berichtet Eberhard an seinen daheimgebliebenen Freund Otto in ausführlichen Briefen von einem Enthusiasmus für den Süden, der bewusst den Klischees aus dem Wege geht. Denn er braucht keinen Reiseführer, er will immer dicht am Alltag der Menschen bleiben. Er macht sich lustig über die Landsleute, die „an den in der Heimat eingestopften Lehren vom Akademiedirektor“ kauen und dabei glatt Land und Leute übersehen würden. Eberhard will es besser machen und fühlt sich mit seinem Abtauchen in den römischen Alltag frei wie ein Vogel, um prompt im Käfig der Ehe zu landen. Kaum verheiratet, verwandelt sich jedoch seine Lebenslust in Melancholie. Was aber fehlt ihm zum Glück inmitten des südlichen Zaubers? Man mag es kaum glauben, aber es ist die häusliche Behaglichkeit des Nordens, die Filzpantoffel und das traute Heim samt Hausmütterchen sind es, die er vermisst. Womit Eberhard genau bei den Klischees landet, die er anfangs seinen Landsleuten vorwirft, nämlich hier der leichtlebige Süden und dort der schwerfällige Norden.

Auch andere Erzählungen wissen vom tragischen Missverständnis, das der deutschen Sehnsucht nach dem Süden eingeschrieben scheint. Immer kämpft Nebel gegen Feuer. So wird die Sehnsucht nach Arkadien am Ende zum Verhängnis, zur Tragik von Liebe und Tod. Hier behält Heine leider recht, es bleiben Luftgebilde. Gaudy versteht sich aufs Märchenhafte, auf Geschichten voller Zaubereien und Räubereien. Er sieht sich am liebsten in der Rolle des öffentlichen Geschichtenerzählers, der zum Liebling seines Publikums wird, weil er es in eine andere Welt entführt, dabei die eigene vergessen macht. Die Handlungen sind oft so verworren wie sonst nur italienische Opernlibretti. Einmal wähnt man sich tatsächlich in Gioachino Rossinis komischer Oper Die Italienerin in Algier, wenn von einer Entführung die Rede ist, die unversehens in einen orientalischen Harem führt. Doch Gaudy entscheidet sich für ein makabres Finale und ersetzt das Happy End durch tiefschwarzen Humor. Der Erzähler scheut sich nicht, hin und wieder selbst augenzwinkernd aufzutreten oder mal eben den Protestanten gegen all die katholische Bigotterie zu Wort kommen zu lassen.

Irgendeine Liebesgeschichte mit zauberhaft schönen Frauen steckt immer in den Erzählungen, doch glücklich endet kaum eine. Es sei denn die Braut schlüpft in einen Soldatenrock, um dem Geliebten auf dem napoleonischen Schlachtfeld das Leben zu retten und so das Eheglück zu finden – eine rührende Herz- und Schmerzgeschichte, am Ende beschienen von der goldenen Sonne der Romantik.

Alles ist möglich in Gaudys Erzählungen: Eine geheimnisvolle Frau, die nächtens in einer Gondel unterwegs ist und in einen Zaubergarten lockt, in dem betörende Duftwolken wogen und buntfarbige Vögel wie ein Mädchenchor singen. Ein andermal erwischt einen trägen Teutonen das Liebesfieber, der sich in sein Modell verliebt und die tödliche Macht des Schicksals herausfordert. Frau Venus wiederum tritt als böswillige Göttin auf, die nur durch Zaubermacht zu bezwingen ist. Geister kommen bei Gaudy nicht aus der Flasche, sondern sind in Austernschalen versteckt und erfüllen Wünsche. Zur Liebe gehört die Eifersucht, Leidenschaften sind immer wild, wenn nicht mordlüstern. Aus einem adligen irischen Jungen wird ein gefürchteter Räuberhauptmann. Ein Page entpuppt sich als ein reizendes Mädchen, das dem besiegten Franzosenkönig Franz I. zur Flucht aus seinem italienischen Gefängnis verhilft, um hier reale Geschichte mal eben melodramatisch umzuschreiben. Gaudy bietet seinen Leser*innen eine Fülle an Stoffen, üppig ausstaffiert mit überbordender Fantasie.

Märchen seien eine Art der Wirklichkeitssicht mit einer eigenen Vernunft. In besonderen Zeiten, so Ralf Konersmann, erleben sie eine wahre Konjunktur. Etwa in Zeiten des Umbruchs, wenn alles in Bewegung gerät, sich verändert und alle Sicherheit schwindet. Das frühe 19. Jahrhundert war so eine Umbruchszeit, die durch Romantik wie durch den Realismus eine merkwürdig ambivalente Physiognomik gewann. Der dazwischen angesiedelte Märchenton traf offenbar auf ein aufnahmebereites Publikum. Bei Gaudy ist das ein Märchenton, der eigenwillig zwischen Träumerei und Wirklichkeit liegt und in wilden Landschaften und alten Gemäuern Glück und Grauen gleichzeitig wahrnimmt.

Titelbild

Franz von Gaudy: Ausgewählte Werke. Band 1.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2020.
426 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783487158495

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