Modernes Ritual und moderne Ritualität im Drama

Saskia Fischers Bestandsaufnahme für Literatur und Literaturwissenschaft im Hinblick auf die Geschehnisse des Nationalsozialismus in „Ritual und Ritualität im Drama nach 1945“

Von Jessica FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jessica Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ritual und Ritualität, gebrandmarkt durch den nationalsozialistischen Duktus im Drama und Theater, wird bei Saskia Fischer in ihrer 2019 erschienenen und mit Erweiterungen versehenen Dissertation aufgegriffen. Die zentrale Fragestellung, inwiefern rituelle Gestaltungsformen auch nach dem Nationalsozialismus bestehen können und bestehen, wird anhand der Stücke von Brecht, Dürrenmatt, Hochhuth, Frisch, Sachs, Weiss und Handke näher beleuchtet. Damit fügt sich die Arbeit in die wissenschaftliche Tradition nach Wolfgang Braungart und Burkhard Dücker.

Fischers Arbeit gliedert sich in die drei Schwerpunktbereiche Ritualität und Gesellschaftskritik, Ritualität und Erinnern und Ritualität und Protest. Während Brecht, Dürrenmatt und Hochhuth die Perspektive des Subjekts in der Tragödie fokussieren, um den Ritualspielen ein moralisch-ethisches Korrektiv zurückzugeben, beziehen sich Frisch, Sachs und Weiss in Anlehnung an Brecht auf Requiem und Oratorium, Handke schließlich auf die Publikumsbeschimpfung. Es wird ersichtlich, dass die genannten Autor/innen das Thema Ritualität und Ritual unterschiedlich aufgreifen.

Brecht wird in dieser Konstellation als Vorreiter für rituelle Gattung und Traditionen deklariert, da er, vorzüglich in seiner Antigone des Sophokles, das Oratorium aufgreift und sich dem japanischem No-Theater annähert, um eine distanziert-kritische Haltung zur Opfergemeinschaft des Nationalsozialismus durch eine gestische, d.h. auch performante Sprache und durch die Mischung von Standardsprache und Volkssprachlichkeit herzustellen. Damit distanziert sich Brecht von den Thingspielen, d.h. von den Propagandaspielen des Nationalsozialismus nach Carl Niessen. Resultat ist nach Fischer eine Ästhetik, die eine Vielfalt von Ritualen und Ritualität ermöglicht und gleichzeitig die Kunst als Ort einer solchen Vielfalt bestimmt.

Bei Dürrenmatt, insbesondere im Drama Besuch der alten Dame, kommen darüber hinaus das Groteske, die litaneihafte Wiederholung und die Kritik am theatrum mundi, in dem bekanntlich jeder eine ihm zugeteilte Rolle spielt, hinzu. Thematisiert wird die Ritualität, die schnell in Inhumanität umschlagen kann, wenn eine reflexive Haltung fehlt.

Hochhuth beschäftigt sich mit seinem Stellvertreter eingehender mit dem Subjekt als Selbstopfer. Kennzeichnend für seine Sprache sind nach Fischer Monologe und damit eine einhergehende reduzierte Ritualität. Fokussiert wird das Leid der Opfer im Nationalsozialismus. Rituell bleibt aber auch Hochhuths Werk dahingehend, dass Gebete Mitleid und Reflexivität erzeugen, ohne dass die Subjektivität verloren geht. Durch dieses Ritual des Gebetes wendet man sich von der Gegenwart ab, um einen Möglichkeitssinn, der die Diskussion über das gesellschaftliche Selbstverständnis eröffnet, herzustellen. Damit ist das Ritual nichts Festes oder Statisches, sondern ein sich Veränderndes. Ermöglicht wird dies, angelehnt an Lothar van Laak, durch das Subjekt, das Rituale als Gestaltbildung versteht und durch Sinnvollzug und Sinnerfahrung von eben gerade diesem Subjekt verstanden werden kann.

Requiem und Oratorium sind weitere Gattungen, die neben der Tragödie im Drama aufgegriffen werden. Die Annäherung zur Musik durchbricht die Geschlossenheit des klassischen Dramas nach Freytag. Frisch nutzt in seinem Drama Nun singen sie wieder das Requiem für wiederkehrende Motive, rhetorische Figuren und wiederkehrende syntaktische Strukturen. Das Requiem entpuppt sich in seiner Ritualität nicht nur als religiöser Ritus, sondern ebenso als Kunstform selbst. Das Ritual kann als etwas Schönes und Gemeinschaftsstiftendes aufgefasst werden. Durch reflexive Wiederholungen wird ein Schuldbewusstsein für das Geschehene entwickelt.

Dem gegenüber steht in Sachs Drama Eli die Annahme, dass Rituale aufgrund der Shoah misstrauisch zu behandeln sind. Sachs bezieht sich auf die religiöse Sprache der Bibel in Bezug auf Gottesvertrauen und Gottesmisstrauen und nähert sich damit der Klage und dem Flehen an. Eine friedliche, auf Toleranz, Humanität und Mitgefühl beruhende Zivilisation ist bei Sachs gerade in der Kunst möglich.

Weiss zieht hingegen in der Ermittlung das Oratorium als Ritual und Gattung heran. Das chorische Singen selbst ist eine rituelle Handlung, die die nationalsozialistische Propaganda zu reflektieren ermöglicht. Die Sprache selbst kann jedoch entritualisiert werden. Zentral ist das Erinnern, nicht das Aufzwingen einer einzelnen Botschaft. Erreicht wird dies durch Vielstimmigkeit.

In Handkes Publikumsbeschimpfung wird das Ritual gänzlich aus seiner starren Form gelöst. Fokussiert wird die Performance-Kunst. Die Publikumsbeschimpfung selbst wird zum Ritual, indem das Publikum nichts erwarten darf, nicht erwarten soll und nichts erwarten kann. Und dennoch löst die Publikumsbeschimpfung durch seine Nähe zur Musik und aufgrund seiner Wiederholung Reflexion aus. Kunst wird nicht nur, aber auch als religiöse Offenbarung gedeutet. Die passive Handlung der Zuschauer wird aufgehoben. Theater wird somit erfahrbar.

Fischers Nähe des Dramas zum Ritual löst nicht nur eine Verbindung von Literatur und Geschichte aus, sondern auch die Verbindung von Literatur und Musik, Literatur und Religion und Literatur und Gender durch die Performance in der Literatur bzw. durch die Performanz nach Judith Butler. Fischer distanziert sich dabei nicht einfach von der Kunst des Nationalsozialismus, sondern arbeitet diese auf und unterstreicht, dass moderne und gegenwärtige Kunst nicht die Kunst des Nationalsozialismus im Hinblick auf Ritualität und Ritual ausgrenzt, sondern sie durch eine reflektierte Haltung gerade für die Literatur und Literaturwissenschaft fruchtbar macht.

 

 

Titelbild

Saskia Fischer: Ritual und Ritualität im Drama nach 1945. Brecht, Frisch, Dürrenmatt, Sachs, Weiss, Hochhuth, Handke.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019.
XII, 466 Seiten , 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770562305

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