Krisen, Kriege, Katastrophen

Tagungsband bietet Altes und Neues zur historischen Dimension von Angst

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits vor zwei Jahren erschienen, könnten Titel und Thema des vorliegenden Sammelbandes im Jahre 2020 kaum passender sein: Krise, Krieg, Katastrophe, Angst und Bedrohung, das sind gleichermaßen wuchtige wie diffuse Schlagworte, die derzeit täglich von internationalen Medien geteilt werden. Dabei gehen die hier versammelten Beiträge bereits auf eine Ringvorlesung 2009/10 zurück; die Veröffentlichung verzögerte sich dann durch unerwartete persönliche Krisen, wie die Herausgeber einleitend ausführen.

Ein Dutzend Aufsätze liegt nun aber vor und beschäftigt sich mit (katastrophalen) Naturereignissen, darunter Seuchen, ebenso wie mit sozialen, politischen und religiösen und damit auch emotionalen Herausforderungen in Krisenzeiten. Ein weites Feld also, auf dem seit Jahrzehnten international gearbeitet wird, auf dem der vorliegende Band aber doch weiterhin zu Recht allerlei Lücken sieht, die er teils zu füllen bestrebt ist.

Die Breite der Aufsätze macht es unmöglich, eine konzise Zusammenfassung zu geben oder als einzelner Rezensent überall ein adäquates Urteil zu fällen: Medizinhistorische Betrachtungen stehen neben literaturanthropologischen Beobachtungen, soziopolitische Erwägungen neben u.a. psychologisch oder musikgeschichtlich perspektivierten Überlegungen. Einige Beiträge sind weniger das Resultat von Primärforschung der jeweiligen Verfasser, als vielmehr eine überblicksartige Einführung in ganze Themenfelder.

Viele Aufsätze sparen nicht an Quellenzitaten (oft mit Übersetzung), tabellarischen Übersichten oder Abbildungen (in Graustufen) und bieten nicht selten auch recht umfangreiche Bibliographien. Das führt bisweilen zu Aufsätzen von imposanten 50, gar 60 Seiten, etwa Heinz Dopschs und Wolfgang Neupers Präsentation von Kriegen und Fehden als Zeiten der Krise oder Klaus Schmidts psycholexikologische Annäherungen an mittelhochdeutsche Literatur; solche Beiträge sind kaum an einem Stück zu lesen, sondern müssen eher als regelrechtes kleines Nachschlagewerk gelten. Andere Beiträge sind klarer fokussiert und argumentieren konziser, etwa Birgit Wiedls Untersuchung zu jüdischen Lebensrealitäten im ausgehenden Mittelalter. Wieder andere Aufsätze greifen zwar wesentlich auf Bekanntes zurück, perspektivieren dieses aber unter dem Vorzeichen aktuellen Zeitgeschehens, so etwa Daniel Rötzer-Matz’ Lesung des Decameron, einerseits vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Pest, andererseits mit Seitenblick auf SARS und Schweinegrippe.

Das generelle Streben der meisten Beiträge nach grenzüberschreitender Betrachtung ist anerkennenswert, denn zu oft hört in der mediävistischen Forschung das Interesse am selbstgezogenen Graben zum Nachbarfeld auf. Mancher der vorliegenden Aufsätze neigt aber auch zu unscharfen bis missverständlichen Formulierungen, sobald der Blick über Disziplingrenzen reicht. So wird Dopschs und Neupers Rede von Nibelungenlied und Isländersagas als „den ältesten schriftlichen Zeugnissen germanischer Stämme“ in der literaturwissenschaftlichen Forschung keine Zustimmung mehr finden: Hier handelt es sich um schriftliterarische Erzählungen aus christlicher Zeit, die vielfältige Spuren wiederholter Aus- und Umarbeitungen zeigen und oft genug erst in spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Handschriften überhaupt auf uns gekommen sind; dazu muss hier nicht mehr gesagt werden. Fragwürdig in der Formulierung ist aber z.B. auch die kurze Bemerkung der beiden Verfasser, „Fehdeführung und Krieg bei den christlichen Völkern Europas“ sei ein tunlichst zu vermeidender Ausnahmezustand gewesen, während u.a. „bei den Stämmen der Arabischen Halbinsel […] Raub, Plünderung und Mord auf der Tagesordnung standen“. Im Erscheinungsjahr 2018 hätte man da zumindest ein wenig mehr Feingefühl im Ausdruck erwarten können, zumal dieser Teil der Darstellung denkbar knapp und oberflächlich gehalten ist.

Im Gesamtblick sind die versammelten Aufsätze also heterogen in Gegenstand, Methode und Zielsetzung, tragen aber doch alle jeweils ein Steinchen zu einem weiterhin unfertigen Mosaik bei. Jan Cemper-Kiesslich fasst das am Ende seines Beitrag zu Syphilis, Pest und Pocken recht treffend zusammen, wenn er quer durch die historische Betrachtung eine „wechselseitige Einflussnahme von biologischen und medizinischen Faktoren einerseits und sozialen, psychologischen, politischen und nicht zuletzt ökonomischen Faktoren andererseits“ konstatiert, die es in diesem Wechselspiel stets im Blick zu halten gelte.

Übergeordneter Anspruch des Bandes war entsprechend die Untersuchung von „Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bewältigungs- und Erinnerungsmustern“ von Krisen und Katastrophen in der mittelalterlichen Gesellschaft, mit manchem aktuellen Bezug. Deutlich sollte geworden sein, dass die versammelten Beiträge einiges zur weiteren Erhellung dieser Mentalitätsgeschichte beitragen – erfreulich also, dass die Aufsätze nach manchem Auf und Ab schließlich doch noch erscheinen konnten. Ein wenig fehlt mir allerdings, wie ebenfalls angedeutet, der rote Faden, der die recht disparaten und bisweilen weitschweifenden Betrachtungen zu einem aussagekräftigen Fazit zusammenziehen würde; hier erscheint auch die Einleitung der Herausgeber eher als skizzenhafter Report denn rückblickende Auswertung. Andererseits zeigt sich vielleicht gerade darin, wie wichtig die Reflexion krisenhafter Grundkonstanten der menschlichen Existenz ist und auch bleibt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christian Rohr / Ursula Bieber / Katharina Zeppezauer-Wachauer (Hg.): Krisen, Kriege, Katastrophen. Zum Umgang mit Angst und Bedrohung im Mittelalter.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
420 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783825363185

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