Weil es jetzt Herbst wird, schreibe ich heute nichts mehr

Tove Jansson erzählt in „Briefe von Klara“ unkonventionelle, fantasievolle Geschichten

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch die Mumins wurde die finnisch-schwedische Künstlerin Tove Jansson, die von 1914 bis 2001 lebte, weltweit bekannt. Besonders Kinder freuten sich über die nilpferdartigen Trolle, die in liebevoll gezeichneten Büchern rasch populär wurden. Auch Verfilmungen erzählen von den Mumins und ihrer Welt. Eine gewisse Kindlichkeit der Wahrnehmung bewahrte sich die Schriftstellerin auch in vielen ihrer erzählerischen Werke. Der neue Band mit ausgewählten Geschichten ist bereits 1991 in Schweden und Finnland erschienen, knapp dreißig Jahre später folgt nun die deutsche Übersetzung.

In der titelgebenden Erzählung schreibt die greise Klara an verschiedene Personen, freimütig, geradlinig und offenherzig. Ihre Freundin Matilda hat sich darüber mokiert, dass sie ihren Geburtstag vergessen habe, wahrscheinlich in einem jammervollen Ton. Aber Klara meint, das „reine Vergehen der Jahre“ sei mitnichten eine besondere Leistung. Sie weist Matilda zurecht und ermahnt die Freundin, nicht immerzu zu jammern: „Ich weiß, dass es dir erstaunlich gut geht, dem Himmel sei Dank, aber du hast die einzige Gabe, deiner Umgebung Schuldgefühle zu vermitteln, indem du jammerst, und das zahlen sie dir heim.“ Klara fragt nach Matildas ehrlicher Meinung, nämlich ob sie törichte Menschen dumm dahinreden lasse und souverän ignoriere oder deren Ansichten kommentiere. Eine energische Bitte folgt: „Wenn du mir wieder schreibst, verwende bitte nicht deinen vorsintflutlichen Füller, der macht den Text unleserlich und ist außerdem hoffnungslos unmodern.“

Eine weitere Adressatin von Klaras Briefen heißt Cecilia, weniger jammervoll, aber schwermütig. Klara bietet ihr zielgenaue Tröstungen an: „Du schreibst, du seist melancholisch geworden, aber Cecilia, das gehört doch dazu, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich habe irgendwo gelesen, das sei ein physiologisches Phänomen, klingt das nicht tröstlich? Also, man wird melancholisch – dann setzt man sich hin und denkt, aha, das hier zählt nicht, ich kann nichts dafür, das wird einfach so. Nicht wahr?“ Lebenspraktische wie -kluge, mitunter etwas kantige Ratschläge gibt die Briefschreiberin. Eine wiss- wie neugierige Dame, die etwas über die Vorzüge des Alters wissen möchte, weist sie nonchalant ab. Wer solche Fragen stelle, dürfe von ihr „keine ehrlichen Antworten“ erwarten.

Ein besonderer Mensch ist auch Robert, ein junger Kunststudent, nachdenklich, zurückhaltend, möglicherweise freudlos. Er bewegt sich allein unter den Mitstudenten. Eines Tages beginnt er, „Abschiedsbriefe“ zu schreiben, an „jeden Einzelnen aus der Malklasse“. Alle Briefe sind inhaltlich gleich: Robert, der mit niemandem näher bekannt ist, beendet die Zeilen „mit einer sehr höflichen Kündigung der Bekanntschaft“: „Wir zeigten einander seine Briefe nicht und besprachen die Angelegenheit auch nicht. Vielleicht fanden wir es komisch, auf etwas, das nie existiert hat, zu verzichten, aber wir sprachen es nicht aus. Alles ging so weiter wie immer, ganz so wie immer.“ Wenig später beginnt der Krieg, in dem Robert verloren geht. Er verirrt sich und verlässt das Land. Zudem habe er nie einen Orientierungssinn besessen, so hört die Erzählerin der Geschichte, aber von allen sich verabschiedet, auch von den Menschen, die er kaum oder gar nicht gekannt hatte. Diese besonderen Wahrnehmungen bleiben unsichtbar, wie Tove Jansson zeigt, und die Frage, wann und wie Menschen sich einander begegnen und sehen, bleibt offen. Menschen wie Robert gehen eigene Wege, äußerlich nahezu unscheinbar, verschlossen, eigensinnig – und bleiben auf eine ganz unerwartete Weise unvergesslich. Dieses Gespür für die sehr besondere Individualität stellt die Autorin in ihren Geschichten dar, den Spuren dieser Menschen geht sie nach.

Die Aufzeichnung eines Kindes, vielleicht einer Jugendlichen, tragen den Titel Im Sommer. Berichtet wird von geheimen Zimmern und vom Schwimmen, auch vom Alleinsein: „Ich bin zum ersten Mal in tiefem Wasser geschwommen, und das habe ich allein gemacht, als niemand zuschaute. … Eigentlich sollten Eltern ihre Kinder nicht in tiefem Wasser schwimmen lassen, ohne sich beispielsweise hinter einem Stein zu verstecken, von wo aus sie dafür sorgen können, dass die Kinder ordentlich zurückkommen. Daran werde ich denken, wenn ich Kinder bekomme.“ Die Fantasie über die eigenen Kinder weitet sich, wird konkreter – eine Tochter, nur geahnt und erdacht, noch ohne Namen. Das Fantasiekind darf eigenständig aufwachsen, ein wenig zumindest: „Sie muss keine Blaubeeren pflücken, aber wenn sie Lust hat, darf sie Pilze sammeln, das macht nämlich Spaß. Meine Tochter darf uralte Hosen anziehen, und widersprechen darf sie mir auch, aber nicht zu viel. Sie soll so aussehen wie ich, nur hübscher. Weil es jetzt Herbst wird, schreibe ich heute nichts mehr.“

Jansson blickt erzählend hinaus ins Weite, mit Kinderaugen oft, auch mit Kindergedanken, deren unerwarteter Abschluss die Leserinnen und Leser lächeln lässt, wenn der Schlusspunkt ganz besonders ausfällt und die allmächtige Kausalität außer Kraft gesetzt wird. Weil es jetzt Herbst wird, schreibe ich heute nichts mehr? Diese Begründung lässt freundlich nicken und jene schmunzeln, die auch nicht ganz an Kausalität glauben, Kinder und Erwachsene.

Wer aus den Konventionen und der Gewöhnlichkeit des Alltags ein wenig heraustreten möchte, wird stillvergnügt die klug erdachten Erzählungen von Tove Jansson lesen, die den Blick öffnen und die Gelegenheit bieten, manches noch einmal ganz anders, vielleicht mit Kinderaugen anzuschauen. Nach der Lektüre mag die eine oder der andere erwägen, ob ein kleiner Ausflug zu den Mumins, also ins Mumintal, nicht schön sein könnte. Die fantasievollen Geschichten erfreuen und bereichern Jung und Alt bis heute. Wer Tove Janssons Erzählungen mag und wertschätzt, bleibt von innen her aufgeschlossen für die Verschiedenheit der Menschen und die Vielfalt dieser Welt – und erfährt aufs Neue die Kostbarkeit von Freundlichkeit, Mitgefühl und Güte.

Titelbild

Tove Jansson: Briefe von Klara. Erzählungen.
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer.
Urachhaus Verlag, Stuttgart 2020.
137 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783825152505

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