Gewalt als Nationalsport

Menschenverachtung, Folter und Krieg in Cemile Sahins „Alle Hunde sterben“

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Folter ist die totale Unterwerfung des Individuums“, schrieb Jean Améry. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“ Der Roman von Cemile Sahin Alle Hunde sterben bringt eine selten zu findende Darstellung von Folter und deren Folgen für den ihr ausgesetzten Menschen in der Gegenwartsliteratur. Welche Folgen die Folter für den einzelnen hat, bringt Sahin in ihrem Roman extrem deutlich zum Ausdruck. Die Autorin stellt hauptsächlich den Zerstörungsprozess des Subjekts dar und bestätigt einmal mehr, dass „die Tortur das fürchterlichste Ereignis ist, das ein Mensch in sich bewahren kann“.

In Sahins Roman wird nachdrücklich geschildert, dass Folter als Angriff auf die Grenzen des körperlichen Ichs anzusehen ist. Das bedeutet, sie zerstört das Vertrauen des Gefolterten in die Menschheit, das Vertrauen in andere Menschen, das, was „erlaubt, ‚ich‘ zu sagen“. „Das Gegenteil von Frieden ist Folter“, sagt einer der Protagonisten Sahins, nicht „Krieg“, denn bereits am Verlauf des ersten Golfkrieges von 1990/91, der Zerfallskriege Jugoslawiens und der Sowjetunion (die Tschetschenienkriege, der Berg Karabach-Konflikt), der Kriege in Nordafrika werden neue Tendenzen und Entwicklungen in Krisen- und Kriegsgebieten erkennbar. Diese Veränderungen der Kriegsform werden in Sahins Roman durch eine neue kriminelle Ökonomie der Gewalt, neue Gewaltmotive, brutale Gewaltstrategien und anhand zahlreicher privater Gewaltakteure betont. Diese Gestalt des Kriegs findet in Form der Beschreibungen von Verwüstungen durch Milizen, Soldaten, Söldnern, Gangs, Misshandlungen der Zivilbevölkerung, Todesurteilsvollstreckungen an Frauen, Kindern, alten Männern, von Morden, Pogromen, Massakern und Flüchtlingsströmen Eingang in den Roman.

Erzählt wird die Handlung in neun Episoden, aus neun verschiedenen Perspektiven. Die ErzählerInnen, Necla, Murat, Nurten, Birgül, Sara, Umut, Haydar, Metin und Devrim, die zum Teil auch Figuren in Erzählungen anderer sind, berichten gegenüber einer „Gesprächsinstanz“ von Ereignissen aus den Kriegs- und Konfliktjahren und vom Sadismus des Militärs, der Polizei und der Gefängniswärter. Bis auf Devrim leben alle in jenem Hochhaus, das „im Westen der Türkei“ steht, „in dem alle warten und sitzen, warten und Ausschau halten bis jemand kommt und diese Person jemand von früher sein konnte“ und das ihr Exil ist: „In diesem Hochhaus wohnen Hass und Strafe und dazwischen wohnen wir“, sagt Sarah, die mit ihrer Freundin Hêlîn auf der Flucht ist. Sahin vermeidet bewusst die Verortung der verschiedenen Heimatorte ihrer ProtagonistInnen. Die Gewalt ist allgegenwärtig, an vielen Orten der Welt angesiedelt und wird stets von Menschen ausgeübt: „Bewohner, Spitzel, Agenten, Soldaten, Polizisten, Dorfschützer, Kinder, aber die können auch Spitzel sein“. Sahin geht es nicht um die Benennung der Schuldigen oder die Erklärung von Schuld. Vielmehr interessiert sie die Zivilbevölkerung, sie verleiht den Frauen und Kindern aus den Krisengebieten eine Stimme, lässt sie in ihren eigenen Worten über Gewalt, Folter und Tod sprechen: „Ich habe nicht geschrien, als sie meine Tochter mitnahmen. Ich habe gekotzt. Direkt auf mich drauf. Auf mein Hemd und die Hose. Wie ein Säugling gespuckt. Bin in Ohnmacht gefallen. Als ich aufgewacht bin, war die ganze Wohnung verwüstet. Sie haben Bilder von den Wänden gerissen“, sagt Umut, die „den ganzen Tag über Polizeigewalt [redet]“.

Gerade die Hinwendung zu Erzählungen von Eltern, die dem Tod ihrer Kinder zuschauen müssen, kann als Alleinstellungsmerkmal des Romans gelten: „Mein Sohn verstarb nicht zu Hause. Er hat nicht mehr die Augen geöffnet. […] Er hat nicht auf uns gehört, wir haben gesagt: Bitte stirb nicht! Lass uns für dich sterben. Wir sind deine Eltern. Lass uns sterben. Mein kluger, hübscher Devin, er war sechzehn Jahre alt“. In dem Roman ist die Rede von Eltern, die ihre Kinder schützen möchten, von Frauen, die jahrelang darauf warten, dass ihre Kinder aus Gefängnissen entlassen werden, von Mädchen, die auf der Flucht sind, sich vor Soldaten schützen müssen und von Kindern, die mit ihrem kindlichen Blick den Krieg zu verstehen versuchen.

Die Täter werden anonymisiert, werden stets als „sie“ bezeichnet; sie bekommen kein Gesicht. Die LeserInnen erfahren nichts über ihre Motivation, außer, dass „sie für das Folter zusätzliches Geld kriegen. Das ist Bonus. Für jede Person, die gefoltert wird, gibt es extra Cash“. Für das tiefere Ergründen der Tätermotive fehlt auch den ProtagonistInnen das Interesse; sie sind zu sehr mit ihrem eigenen Schicksal, mit ihrem zerstörten Leben und der geschädigten Psyche beschäftigt, als dass sie sich mit ihren Peinigern auseinandersetzen könnten. Die Gewalt bleibt anonym. Dadurch ist sie unfassbar, grundlos und allgegenwärtig. Das ist das große Verdienst des Romans, dass die Opfer ins Zentrum gerückt werden; sie werden zu den ProtagonistInnen des Textes. Sahin widmet den Tätern bloß ein absolutes Minimum an Aufmerksamkeit. Die Faszination des Bösen wird in diesem Roman nicht bedient.

Auf eine allwissende Instanz hat Sahin zugunsten vieler verschiedener Ich-ErzählerInnen verzichtet. Über das Leid lässt sich am besten unmittelbar erzählen, in knappen, klaren, deutlichen Worten der einzelnen ProtagonistInnen. Die Worte vermitteln nicht nur den Inhalt, sondern vermitteln auch ein Bild der inneren Verwüstung, die Folter und Leid hinterlassen haben.

Die Autorin arbeitet in dem Roman dem Vorwurf entgegen, „wir wussten das nicht“ bzw. wir „wussten und akzeptierten es“. Denn auch wenn viel über Menschenrechtsverletzungen diskutiert wird, so bleiben die direkt Betroffenen doch anonym, das Augenmerk von Publizistik und Politik wird meist auf staatliche Systeme gerichtet, es wird über Kriege zwischen Staaten, Nationalitäten, Religionen berichtet. Gewalt an Menschen, die infolge des Missbrauchs von Macht ausgeübt wird, wird nicht selten von entscheidenden politischen Institutionen unterstützt und darf in Teilen der Welt straffrei angewendet werden.

Die Handlung des Romans, auch wenn zeitlich nicht explizit benannt, so ist sie doch im Jetzt verankert. Die LeserInnen erkennen Züge der Beschreibungen gegenwärtiger Konflikte, merken, dass es hier nicht mehr um ‚klassische‘, ‚symmetrische‘ Kriege geht. Sahins Figuren beurteilen die Kriegssituation als unübersichtlich, ohne klar konturierte Gegenfraktionen und zählen neben den ethnischen und religiösen Kriegsursachen auch wirtschaftliche und machtpolitische Faktoren dazu. Die Gewalt erscheint im Roman als willkürliche Setzung, sie wird privatisiert und kommerzialisiert.

Sahin unterlässt Ausführungen zu möglichen politischen, gesellschaftlichen und religiösen Kontexten. Der Autorin geht es gänzlich um die Schilderungen der Geschichten von Menschen, die von ihrem Erinnern, Vergessen, Verdrängen oder bewussten und unbewussten Verschweigen erzählen: „Sie haben insgesamt neun Mal auf mein Kind geschossen. Vier Kugeln landeten in der Brust, im Hals steckten drei, das ist ein kleiner Bereich, aber man kann viel treffen, das kann man sich nicht vorstellen, eine war im rechten Oberarm, und eine landete zwischen Knie und Oberschenkel. […] Aber wissen Sie, ich bin froh darüber, dass ihn die neunte Kugel nicht getroffen hat. Schreiben Sie das auf“. Im Roman wird das Erzählen zur Überlebensstrategie im Exil des Hochhauses. Die Bewohner können auf diese Weise Zeugnis über ihr Leben abgeben. Diese Erzählungen erbringen den einzigen Beweis der Existenz dieser Menschen.

Es ist von unermesslicher Bedeutung, Geschichten von Menschen, denen traumatische Erlebnisse zuteilwerden, die in Kriegsgebieten leben, die äußerst schwere Schicksale auf sich nehmen müssen, die hoffen und deren Hoffnungen enttäuscht werden, zu erzählen. Diese besondere Form des Engagements unterstreicht nur noch einmal mehr, dass zu einer anthropologischen Konstante des Menschen, die Fähigkeit in Geschichten zu kommunizieren, gehört. Wenn die Geschichte von einem Menschen festgehalten wird, dient sie der Einspeicherung in das individuelle Gedächtnis. Die Tatsache, dass die ProtagonistInnen des Romans eine Instanz gefunden haben, der sie ihre Lebensgeschichte erzählen konnten, bietet die Voraussetzung für die Herausbildung dessen, was Identität genannt wird. Anders formuliert: Die Entstehung des Selbst ist nur über eine sprachlich-narrative Konstruktion denkbar. Die Intensität des Romans entfacht eine nachhaltige Wirkung.

Titelbild

Cemile Sahin: Alle Hunde sterben.
Aufbau Verlag, Berlin 2020.
239 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038274

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