Fleischeslust

In „Wie die Schweine“ hält Agustina Bazterrica der Gesellschaft den blutigen Spiegel vor

Von Josephina WeidemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josephina Weidemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dann wacht er schweißgebadet auf, weil er weiß, dass ihn ein weiterer Tag erwartet, an dem er Menschen schlachten muss. […] Menschen, gezüchtet zum Verzehr.“ Es wird aufgetischt, was schon das Cover verrät: Fleisch. Roh, abgepackt, mit Etikett versehen, fertig zum Verkauf und vor allem 100 Prozent menschlich. Suhrkamp verlegt den Roman Wie die Schweine der Argentinierin Agustina Bazterrica in der Übersetzung von Matthias Strobel, sodass auch deutsche Leser*innen in den Genuss dieses eindrücklichen Stückes kommen. 

Die Geschichte wird von dem Protagonist Marcos Tejo erzählt. Er ist Produktionsleiter eines kommerziellen Schlachthofes und war einst Lehrling im Familienbetrieb seines Vaters – als auf der Speisekarte noch Tierfleisch stand. Doch seit dem „Übergang“ ist alles anders. Ein Virus hat die Vernichtung aller Tiere zur Folge, ändert jedoch nichts an der unstillbaren Fleischeslust des Menschen. Die Lösung: Die Aufzucht von Menschen wie Vieh, eigens zum Verzehr vorgesehen. Die Haltungs- und Produktionsprozesse des „Spezialfleischs“ unterliegen strikten Gesetzen und natürlich einer Aufsichtsbehörde. Scheinen diese Regeln auch äußerst streng, so lassen sich immer wieder Grauzonen und gesetzlose Räume identifizieren. Viele der Figuren versuchen die außer Kraft gesetzten moralischen Grenzen der vergangenen Normalität nach außen hin hochzuhalten, innerlich sind diese Linien jedoch bereits bei dem Großteil der Menschen verschwommen. Marcos scheint mit seinen Zweifeln allein zu sein. Er ist zwar Teil der Maschinerie, hat seinen Job jedoch nur noch inne, um für sich und vor allem seinen kranken Vater zu sorgen. Er selbst lebt zurückgezogen, isst das „Spezialfleisch“ nicht und verurteilt die Menschen, ihr Handeln und Denken. Wie nur einige wenige glaubt er, dass das Virus nur eine Erfindung ist, um die Überbevölkerung zu stoppen. Doch auch Marcos steht vor moralischen Entscheidungen, die letztlich genauso die menschlichen Abgründe aufzeigen.

So unbehaglich das Gefühl beim Lesen auch ist, die Parallelen zur realen Massentierhaltung und Fleischproduktion werden mehr als deutlich. Begrifflichkeiten wie „Stücke“, „Ware“, „Deckhengst“, „Melkbereich“, „Mängelexemplar“ zeigen, hier geht’s ums Geschäft. Bazterricas Schilderungen zu Zucht, Schlachtung, Verkauf, Jagd und Forschung führen die riesige Maschinerie und Industrie rund um den Fleischverzehr vor Augen. Schlussendlich wird klar: Fleisch wird als Ware betrachtet und dementsprechend ist der Fleischlieferant ebenso ein Produkt, ob nun mit Gefühlen oder ohne – ob nun tierisch oder menschlich. „Jeder habe in diesem Leben seine Aufgabe, und die Aufgabe von Fleisch sei eben, geschlachtet und gegessen zu werden.“ Die Autorin führt die Leser*innen in eine Welt der Doppelmoral, die sich grundlegend gar nicht so sehr von unserer Realität unterscheidet. Damit hält sie uns den Spiegel vor. Die Wendungen, Fragestellungen und Thematiken des Buches stellen scheinbar festgelegte moralische Vorstellungen und Prinzipien immer wieder neu in Frage. 

Die Sprache und der gewählte Ton unterstreichen die Stimmung des Romans. Selbst die brutalsten und barbarischsten Ereignisse und Vorgehensweisen beschreibt Bazterrica in einer schonungslosen Nüchternheit. Einen fast mechanisierten und automatisierten Ton verleiht sie den Figuren und verdeutlicht damit, wie normal und routiniert der grausame Umgang mit der menschlichen Ware ist. So wird beispielsweise die Frage, warum kranke Stücke nicht wieder gesund gepflegt werden, von einem Züchter ganz lapidar mit „Weil es sich finanziell nicht lohnt.“ beantwortet. Auffällig ist auch das sprachliche Gespür der Hauptfigur Marcos. Wiederholt beschreibt er die Worte seiner Mitmenschen, ordnet ihnen Attribute zu und charakterisiert sie auf diese Weise. Den Leser*innen erleichtert es den Zugang zu Marcos Gedankenwelt. „Es gibt Wörter, die die Welt verschleiern, denkt er. […] Es gibt Wörter, die bequem sind, hygienisch. Legal.“ Sprache generiert Normalität. Wörter können Grausamkeiten überdecken und überspielen. „Er würde gern Gräueltat sagen, Unbarmherzigkeit, Exzess, Sadismus.“ Doch viele Wörter in der Welt von Marcos dürfen nicht ausgesprochen werden, damit die verdrehten moralischen Regeln des Systems nicht ins Wanken geraten. Für ihn gibt es Worte ohne Gewicht und Worte mit erschreckendem Gewicht. Und während Marcos stets über seine Wortwahl nachdenkt, scheint er damit der Einzige zu sein. Als Leser*in bleibt einem daher die Frage im Kopf, wer oder was Normalität generiert und wie Sprache Einzug in unseren alltäglichen, „normalen“ Diskurs erhält.

Bazterrica legt eine ausgereifte und ins Detail gehende Kritik an unserer heutigen Konsumgesellschaft in Romanform vor. Auf jeder Seite präsentiert sie einen Sachverhalt, der nicht allzu unbekannt ist und trotzdem neue Fragen aufwirft. Die fiktive Rahmung setzt prekäre Situationen wie die Massentierhaltung in einen neuen Kontext. Durch die Vermenschlichung der Produkte in der Erzählung erhalten reale Bedingungen und Missstände unserer Gesellschaft größere Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit. Die Autorin setzt in ihrem Roman auf eine emotionale Adressierung, wodurch die Leser*innen nicht umhinkommen, sich selbst und die eigenen Moralvorstellungen zu hinterfragen. Die Verwobenheit der persönlichen Geschichte Marcos Tejos mit der ihn umgebenden dystopischen Gesellschaft erzeugt Spannung. Der Autorin gelingt ein poetisches, gnadenlos konsequentes und zum Nachdenken anregendes Spiel mit der Moral des Menschen. Wie weit ist der Mensch bereit zu gehen? Und wie moralisch kann man in einer unmoralischen Welt handeln? An dieser letzten Frage scheitert offenbar nicht nur der Protagonist, sondern sie gerät auch nach der Lektüre des Romans bei den Leser*innen nicht in Vergessenheit.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Agustina Bazterrica: Wie die Schweine. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
237 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783518470237

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