Family-Drama in Romanform
Wiebke von Carolsfelds Debütroman trägt die Handschrift der Drehbuchautorin, kann aber nicht überzeugen
Von Mario Wiesmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMan kann sich wohl kaum etwas Schrecklicheres vorstellen als den gewaltsamen Tod eines engen Familienmitglieds. Wer erleben muss, wie die eigene Mutter oder Schwester von ihrem Ehemann ermordet wird, hat nicht nur den Verlust eines geliebten Menschen zu verwinden, sondern muss womöglich mit schwersten Schuldgefühlen kämpfen und kann für den Rest seines Lebens traumatisiert bleiben. Dieses schwere Sujet hat Wiebke von Carolsfeld für ihren Erstlingsroman Das Haus in der Claremont Street gewählt.
Er beginnt gleich mit dem entscheidenden Ereignis: Der neunjährige Tom hört nachts die Schreie seiner Mutter Mona, die von ihrem Mann mit einem Golfschläger erschlagen wird. Als er ins Schlafzimmer der Eltern kommt, findet er sie mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Boden, unten in der Küche nimmt sich sein Vater das Leben. Tom kommt in die Obhut seiner Tante Sonya. In ihrem Haus findet die Totenfeier statt, mit der die Erzählung im anschließenden Kapitel wieder einsetzt.
Hier werden neben Sonya auch die dritte und vierte Hauptfigur des Romans eingeführt: Sonyas jüngere Geschwister Rose und Will. Während Sonya sich vorstädtisch kleidet und in ihrem ganzen Verhalten altmodisch wirkt, ist Rose unpassender Weise in einer engen, noch dazu blauen Hose zur Beerdigung erschienen. Außerdem trinkt sie ein Glas Wein nach dem anderen. Will, der seine Krawatte im Laufe des Tages verloren hat, liegt mit einem Loch im Strumpf auf der Couch, trinkt Bier und guckt fern.
Zwischen den ungleichen Geschwistern kommt es gleich zu Reibungen. Die verantwortungsbewusste Sonya wirft Rose und Will vor, sie mit allen Bürden, die der Tod ihrer Schwester mit sich gebracht hat, alleinzulassen. Es geht aber auch darum, wer die Asche Russells aufbewahren soll – des Mörders ihrer Schwester, der ein enger Freund der Familie gewesen war. Sonya drängt Will, die Urne zu nehmen, da er Russell in die Familie eingeführt hat. Will findet das scheinheilig, weil Sonya es gewesen ist, die Russell anfangs immer wieder zum Essen eingeladen hat.
Der Tod Monas stellt die Figuren des Romans vor eine doppelte Herausforderung: Zum einen müssen sie versuchen, ihre Trauer zu bewältigen. Zum anderen konfrontiert die Tragödie sie mit ihren eigenen Problemen. Die beiden Themen verknüpft Wiebke von Carolsfeld geschickt miteinander. Im Fokus steht dabei die Figur Toms. Tom, der seit dem Tod seiner Eltern ins Bett macht, sich selbst verletzt und nicht mehr spricht, stellt das Verhältnis der Geschwister vor eine Zerreißprobe. Erst allmählich zeigt sich, dass in der Verarbeitung der Ereignisse auch eine Chance liegt. Monas Ermordung hat den Geschwistern vor Augen geführt, wie zerbrechlich das Leben ist und wie fatal es sein kann, wegzuschauen.
Zunächst gerät das Leben der vier aber in eine Abwärtsspirale. Will flüchtet Hals über Kopf nach Südkorea, Rose beginnt eine Affäre mit Sonyas Ehemann, Sonya bricht den Kontakt zu ihrer Schwester ab, als sie davon erfährt. Wiebke von Carolsfeld reiht kurze Szenen aneinander, in denen diese Ereignisse aus wechselnder Perspektive erzählt werden. So beginnt man unwillkürlich beim Lesen damit, die Sicht- und Verhaltensweisen der Figuren miteinander zu vergleichen. Toms Tanten und sein Onkel stellen sich dabei oft als die Unreiferen heraus und Tom als erschreckend erwachsen. Alle vier eint aber ihr Schmerz. Indem sie versuchen, ihn zu verdrängen, schaden sie sich und anderen.
Am interessantesten ist es, dieses innere Ringen mit dem Erlebten bei Tom zu verfolgen. Dessen eigenwilliges Verhalten, das seine Familie immer wieder an den Rand der Verzweiflung bringt, wird umso verständlicher, je besser man seine Gedankenwelt kennenlernt. Überzeugend zeigt der Roman, wie Alltagsgegenstände und gewöhnliche Handlungen bei einem Traumatisierten schmerzhafte Erinnerungen wecken können. Die Gedanken der Figuren werden in erlebter Rede wiedergegeben, die sich nahtlos in die Erzählerrede einfügt. Auf bedrückende, jedoch eindrucksvolle Weise wird man so Zeuge von Toms Versuchen, sich aus bedrohlichen Situationen in seine Gedankenwelt zurückzuziehen, indem er sich ganz klein macht und beginnt, bis zu einer bestimmten Zahl zu zählen.
Die Stärke des Romans liegt in diesen psychologisch glaubwürdigen Figurenzeichnungen. Hier beginnen allerdings auch seine Probleme. Denn so einfühlsam Wiebke von Carolsfeld die Psyche ihrer Figuren darstellt, so hölzern klingen deren Gedanken oft in der deutschen Übersetzung. Dorothee Merkel hat sich bei der Übertragung aus dem Englischen eng am Wortlaut des Originals orientiert, auch dann wenn der ähnlichste deutsche Ausdruck in eine ganz andere Sprachebene führt. Welcher Neunjährige würde seine Actionfigur beispielsweise als „Krieger mit dem Verderben bringenden Schnellfeuergeschütz“ beschreiben?
So wirken die Figuren zum Teil recht hüftsteif. Das wiegt besonders schwer, weil der Roman sein ganzes Kapital aus seinem Inhalt schlägt. Wenn die Figuren nicht glaubwürdig denken und handeln, wird es schwer, das Erzählte ernst zu nehmen – und gerade darauf setzt Das Haus in der Claremont Street. Stilistisch orientiert sich Wiebke von Carolsfeld dabei an der Ästhetik des Films. Das ist wenig überraschend, wenn man weiß, dass die Autorin aus der Filmbranche kommt. In Kanada hat sie sich als Editorin, Drehbuchautorin und Regisseurin einen Namen gemacht.
Den Anleihen beim Kino verdankt der Roman seinen episodenhaften Aufbau und seine gedrängte Handlung. Allerdings greift Wiebke von Carolsfeld auch auf einige Klischees des populären Films zurück. Aus einem Melodrama könnte beispielsweise der folgende Dialog stammen. Rose, die ihren Bruder aus dem Krankenhaus abholen will, aber einen anderen Patienten in seinem Bett vorfindet, wendet sich aufgelöst an eine Krankenschwester:
„Wo ist er?“, verlangte Rose empört von der jungen Frau, die gerade die Schwesternstation besetzte.
„Wer?“, fragte sie, ohne von ihrem Computer aufzuschauen, und streckte mit dem müden Gebaren eines greisen Weltkriegsveteranen den Kopf vor, als bräuchte sie dringend eine Brille.
„Mein Bruder, Wilfred Michailovitsch. Wo ist er?“
Hier erkennt man eindeutig die Handschrift der Drehbuchautorin. Und fühlt sich in dem Verdacht bestätigt, dass Wiebke von Carolsfeld den Roman für ihr vertrautes Publikum geschrieben hat. Wer gerne kanadische Dramen schaut, den interessiert vielleicht auch, dass sich unter der Seidenbluse der etwa sechzigjährigen Therapeutin Toms „ihre immer noch sehr wohlgeformten Brüste abzeichneten.“ Und der kann womöglich auch den Schwärmereien für Wills Kochkünste etwas abgewinnen („Die Samen würden sich auf das Köstlichste mit den Tomaten vermählen, die gerade auf der hinteren Platte zu einer schmackhaften Soße herunterköchelten.“).
Solche Ausschweifungen gehen auf das Konto der Figuren, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, und helfen dabei, ihnen Profil zu verleihen. Es passt zu Rose und Will, dass sie von muskulösen Männern und koreanischem Kimchi schwärmen („jenes scharfe, mit Unmengen von Knoblauch angerichtete und ach so köstliche Krautgericht“). Einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen sie trotzdem. Denn während Wiebke von Carolsfeld immer wieder schriftstellerische Energie für die Beschreibung solcher Banalitäten aufwendet, bleiben kritische Potenziale der Story ungenutzt.
Das Haus in der Claremont Street handelt von einer ukrainischen Einwandererfamilie in Kanada, doch kulturelle oder Klassenunterschiede spielen für die Geschichte keine Rolle. Die unterschiedlichen sozialen Verhältnisse der Geschwister sollen etwas über ihre Charaktere aussagen – nicht umgekehrt. Aus demselben Grund werden aktuelle politische Ereignisse erwähnt: Wenn in den Nachrichten über den Krieg in Syrien berichtet wird, geht es um Sonyas verändertes Verhältnis zu Gewalt seit der Ermordung ihrer Schwester. Und auch wenn eine der Figuren über die Gentrifizierung Torontos sinniert, wird dieses Thema nicht mit der Handlung in Zusammenhang gebracht und zu einem literarischen Thema entwickelt.
Wiebke von Carolsfelds schriftstellerisches Talent blitzt an anderen Stellen auf, vor allem in Beschreibungen der Umgebung, durch die sich ihre Figuren bewegen. Zum Beispiel als Tom die verschneite Straße vor dem Fenster betrachtet: „Die geparkten Autos hatten sich in riesige Marshmallows verwandelt und die Bäume in Zaubertiere mit flauschigen Armen und Beinen.“ Diesem kurzen Hoffnungsschimmer steht die zunehmende Hoffnungslosigkeit der vier Hauptfiguren gegenüber, die sich unter anderem in Roses Wahrnehmung des verschneiten Torontos widerspiegelt: „Das trostloseste Kapitel des Winters war angebrochen: Stiefel mit Salzflecken, Schneewehen voller Hundepisse, aschfahle Gesichter, die monatelang nicht genug Sonne abbekommen hatten.“
Am Ende des Romans sind Sonya, Rose, Will und Tom charakterlich am Erlebten gewachsen und haben als Familie zueinandergefunden. Das Happy End kommt, nachdem man früh das dem Roman zugrunde liegende Handlungsschema erkannt hat, kaum überraschend. Wieder trägt von Carolsfeld dabei ein bisschen zu dick auf. In einer der letzten Szenen lässt sie Rose, die Tom von seiner Pflegefamilie zu sich zurückholen will, voller Pathos verkünden: „Aber wenn ich etwas gelernt habe, dann dies: Wir können unsere Wunden nur gemeinsam heilen.“
Das Haus in der Claremont Street soll in erster Linie unterhalten. In dieser Disziplin schlägt sich der Roman gut. Er hat keine Längen, man will immer weiterlesen, um herauszufinden, wie Sonya reagiert, wenn sie von der Affäre ihres Mannes mit ihrer Schwester erfährt, oder was mit Tom passiert ist, der eines Tages aus der Obhut seines Cousins verschwindet. Mehrere solcher Cliffhanger machen die ohnehin kurzweilige Lektüre noch spannender.
Insgesamt kann Wiebke von Carolsfelds Debüt dennoch nicht überzeugen. Das Haus in der Claremont Street bietet interessante Einblicke in die Gedankenwelt eines traumatisierten Kindes, ist handwerklich gekonnt umgesetzt und lässt sich gut lesen. Die Unwahrscheinlichkeiten der Handlung und die an einigen Stellen holprige Übersetzung kann man allerdings nie ganz ausblenden. Genauso wenig wie einige Tipp- und Kommafehler, die sich durch den Text ziehen. Schwerer wiegt aber, dass der Roman inhaltlich und formal konventionell bleibt. Unter unzähligen ähnlichen Romanen – und Filmen – sticht er kaum heraus.
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