Liebesnöte, Androgynität und das ganze Spiel der Geschlechter
Romana Weiershausen hat Lou Andreas-Salomés Erzähltrilogie „Jutta“ erstmals vollständig herausgegeben
Von Rolf Löchel
Gelegentlich kommt es vor, dass NachlassverwalterInnen verfälschend in die ihnen anvertrauten Texte Verstorbener eingreifen. Das wohl bekannteste Beispiel dürften Elisabeth Förster-Nietzsches umfassende Eingriffe in die Manuskripte ihres Bruders sein, die von Änderungen und Streichungen bis zu Hinzufügungen reichen. So schusterte sie etwa aus verschiedenen Fragmenten einen Text zusammen, verlieh ihm den Titel Der Wille zur Macht und gab ihn als nachgelassenes Werk Friedrich Nietzsches (her)aus.
So weit ging Else Reventlow zwar nicht, als sie 1925 die Tagebücher ihrer Schwiegermutter Franziska zu Reventlow veröffentlichte, doch zeigt die von Jürgen Gutsch und Irene Weiser anhand der Manuskripte herausgegebene Tagebuch-Edition von 2005, dass sie ebenfalls etliche gravierende Verfälschungen vorgenommen hatte. Auch nachgelassene Werke einer Zeitgenossin von Nietzsche und Reventlow sind nicht von erheblichen Eingriffen durch ihren Nachlassverwalter verschont geblieben. In einem Beitrag zu dem von Britta Benert und Romana Weiershausen 2020 herausgegebenen Sammelband Zwischenwege in der Moderne wies Stephane Michaud nach, dass Ernst Pfeiffer als Nachlassverwalter von Lou Andreas-Salomé vielfach in deren Memoiren eingriff, die er unter dem Titel Lebensrückblick publizierte und nicht wie von der Autorin vorgesehen als Grundriss einiger Lebenserinnerungen.
Nun hat Romana Weiershausen Andreas-Salomés dreigliedrige Erzählung Jutta herausgegeben, deren erster Teil Geschwister noch zu Lebzeiten der Autorin erschienen ist, der zweite Teil Ein Pfingsttagebuch 1982 postum von Pfeiffer herausgegeben wurde und deren dritter Heimkehr nun erstmals im deutschen Original erschienen ist. Bereits im Jahr 2000 war eine französische Übersetzung der gesamten Trilogie auf den Markt gekommen.
Wie Weiershausens Ausgabe zeigt, hat Pfeiffer auch in den von ihm im Sammelband Amor / Jutta / Die Tarnkappe. Drei Dichtungen herausgegebenen mittleren Teil der Trilogie eingegriffen. Neben der einen oder anderen stilistischen Abänderung hat er den Titel geändert und vor allem eine Szene gestrichen, in der die Ich-Erzählerin Jutta ihre Vergewaltigung schildert. Dies ist umso gravierender, als eben diese Szene der „Schlüssel“ zur gesamten Trilogie ist, wie Weiershausen im Nachwort der neuen Ausgabe zeigt.
Sie hat die Trilogie nicht nur erstmals vollständig in der Originalsprache herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, sondern auch eine gewissenhafte Editionsarbeit geleistet, wie der Abschnitt „Quellen und Erläuterungen“ des Anhangs dokumentiert.
Als Quellen standen die Fahnen des 1921 in der Zeitschrift Deutsche Rundschau veröffentlichten Erstdrucks der Einzelerzählung Geschwister zur Verfügung, mit den von Andreas-Salomé für die von ihr geplante Trilogie Anfang der 1930er Jahre durchgeführten Überarbeitungen. Bei der mittleren Erzählung konnte auf das Manuskript der Autorin zurückgegriffen werden; beim abschließenden Teil wiederum auf ein Manuskript sowie ein vermutlich von einer Schreibkraft erstelltes Typoskript mit Änderungen und Streichungen.
Offenbar ist dieser letzte Teil insofern unvollendet geblieben, als dass einige Szenen weiter ausgebaut werden sollten. Denn Andreas-Salomé hat auf den Manuskriptseiten entsprechend Platz frei gelassen. Um „den Text“ der Erzähltrilogie „so zu präsentieren, wie er auf die Autorin zurückgeht“, folgte die Editorin dem „Prinzip Letzter Hand“.
Der erste Teil der Trilogie setzt mit der Ankunft „Tante Adele[s]“ im Hause der Kinder ihrer verstorbenen Schwester ein und erzählt eine entscheidende Episode aus der Jugend der heranwachsenden Jutta und ihrer vier älteren Brüder, deren ältester neunzehn Jahre alt ist, während der Jüngste Jutta gerade einmal eine halbe Stunde voraus hat, denn es handelt sich um ihren männlichen Zwilling. Die Tante wäre zur Handlungszeit, dem beginnenden 20. Jahrhundert, wohl als ‚alte Jungfer’ angesehen worden, auch wenn sie „kaum an den Schläfen angegraut“ ist und sich ihre „Frische“ und eine „kernig[e] Reinheit“ bewahrt hat. Im Widerspruch zu dem in der Eingangserzählung erwähnten angegrauten Haar heißt es in der nur wenige Jahre später handelnden abschließenden Erzählung allerdings, sie sei „früh bereits schneeweiß geworden“.
Nach dem Tod von Mutter und Großmutter der Geschwisterschar will Tante Adele nun selbst die Mutterrolle einnehmen. Verhandelt werden aber nicht nur, ja nicht einmal an erster Stelle die Wünsche der Tante, ihre soziale Mutterschaft ausleben zu können, sondern die Liebesnöte einiger der Geschwister, die inzestuöse ebenso wie homosexuelle Gefühle umfassen, sowie Androgynität und geschlechtliche Ambiguität. Im zweiten Teil der Trilogie tritt (weiblicher) Masochismus hinzu. Vieles davon deutet die Autorin einerseits zwar zumeist eher etwas zurückhaltend an, zugleich aber nimmt sie es in ihren scharfen, psychoanalytisch geschulten Blick.
Überhaupt wird immer wieder mit den Geschlechtern ‚gespielt’. So wird etwa die „knabenhafte“ oder androgyne Jutta von ihrem ältesten Bruder Stefan als „ein Weib, ein Bub“ angesehen. Sie selbst will ihren Körper „ausarbeiten“, damit er nicht „ganz ‚verweiblicht’“. Stefan wiederum wird von den Geschwistern mit dem weiblichen Kosenamen „die schöne Fanny“ bedacht, ein anderer „Liebchen“, ein dritter „Wienchen“ und ein vierter „Herr von Bert“ genannt. Von einem Arzt, der als Mieter im oberen Stock des Geschwisterhauses wohnt und für den Jutta ein schwärmerisches erotisches Interesse hegt, wird sie mit den Worten, sie sei „wie ein Bub“, charakterisiert. Dies gewinnt einen eigenen Beiklang dadurch, dass er sich als homosexuell erweist, was letztlich zu seiner Verhaftung führt. Dabei ist sie mit ihrer Zuneigung für den erwachsenen Mann nicht allein. Denn einer ihrer Brüder, „[d]ie schöne Fanny[,] wetteifer[t] mit der kleinen Jutta um Roberts Gunst“. Nach der Verhaftung des Arztes begeht Juttas Bruder Suizid. Eine Handlung, die das Zeug zu einem reißerischen Kriminalstück oder einem Trivialroman hätte. Andreas-Salomé aber erzählt von alldem sehr zurückhaltend, sprachlich oft nur andeutungsweise, inhaltlich aber klar und deutlich.
Dass die Figuren wie in russischen Romanen mit verschiedenen Namen angesprochen werden, mag den Lesenden die Orientierung zunächst einmal etwas erschweren. So haben die Geschwister neben ihren Rufnamen ausnahmslos Spitz- oder Kosenamen, die allerdings eine Funktion haben, indem sie die Figuren bzw. den Blick der anderen Geschwister auf sie charakterisieren. Der Arzt aber wird von jeder der Figuren anders genannt. Der in ihn verliebte Stefan etwa kehrt seinen Namen Trebor um und nennt ihn Robert. Eine sprechende Inversion.
Im mittleren Teil der Trilogie wiederum kommt es zu einer „drollig[en]“ Verwechslung, indem ein Student einen Kommilitonen versehentlich als „liebe Frau“ anspricht. Die Handlung spielt nun offenbar ein oder zwei Jahre nach der des ersten Teils. Einer von Juttas Brüdern studiert inzwischen und schlägt ihr vor, sie solle es ihm gleichtun, zu ihm in die Universitätsstadt ziehen und ihm mit ihrem „Schwesterherz die Bude häuslich durchglühen“. Damit sie schon einmal seine mit ihm befreundeten Kommilitonen kennenlernt, verabreden sie, Pfingsten, gemeinsam mit sechs seiner Studienkollegen, in einem abgelegenen „Bergörtchen“ zu verbringen. Als Jutta eintrifft, muss sie allerdings feststellen, dass ihr Bruder verhindert und sie alleine mit den sechs Studenten ist, die untereinander eine Wette abschließen, welchem von ihnen es gelingen wird, sie zu verführen. Einig sind sich die sechs allerdings darin, „sich dereinst keine ‚Hirnfrau’ zur Lebensgefährtin aufschwatzen zu lassen, sondern höchstens ein ‚Naturkind’“.
Ihr Buhlen um die Gunst Juttas wird von den Studenten als Kampf der Geschlechter inszeniert, jedoch aus der Sicht der Tagebuchschreiberin geschildert. Denn anders als der erste Teil der Trilogie sind die beiden folgenden nicht von einer allwissenden Instanz erzählt, die in das Innere verschiedener Figuren hineinzublicken vermag, sondern treten als (Tagebuch-)Aufzeichnungen Juttas auf. Mit einem von ihnen, Florian, verlässt sie die anderen, fasst Zuneigung zu ihm und wird schließlich von ihm vergewaltigt und dabei derart „tief“ in den Rücken gebissen, dass sie eine bleibende „Narbe“ davonträgt. Es ist die Szene, die Pfeiffer kommentarlos gestrichen hat.
Die abschließende Erzählung schließt zeitlich unmittelbar an die vorherige an, reicht aber bis in die einige Wochen oder Monate später liegende Handlungsgegenwart hinein. Nun stehen Tante Adele und ihre ‚Mutterschaft’ im Mittelpunkt, beziehungsweise die Phantasien der Titelheldin über die Beziehung zwischen ihrer Tante und ihrem Vater. Denn nach ihrer Rückkehr von dem Pfingstausflug erfährt Jutta andeutungsweise, dass Tante Adele wohl in ihren Schwager verliebt gewesen ist.
Insgesamt wirkt die Trilogie thematisch fast überladen, stilistisch bleibt sie für ein Werk der 1920er und frühen 30er Jahre wenig überzeugend, scheint ihr Erzählton insbesondere im ersten Teil doch eher aus dem 19. Jahrhundert zu stammen. Gelegentlich überschreitet ihr Stil sogar die Schwelle zu kitschigem Schwulst: „Ihr Blick öffnete sich in den seinen, Tiefe um Tiefe, rückhaltlos, Tiefstes hinaufhebend, daß der Tag es aufzunehmen schien, mit seinem klarsten Licht es zu umfluten, es einzureihen schien, seinem Selbstverständlichen.“
Der Andreas-Salomé-Forschung aber wurde mit der vorliegenden Edition ein weiteres Objekt ihrer Bemühungen geschenkt, an dem sich nicht zuletzt zeigen lässt, dass die Autorin in ihrem späten literarischen Schaffen „eine Brücke zum psychoanalytischen Wirken“ schlug, wie die Herausgeberin in ihrem instruktiven Nachwort bemerkt. Ihre „kulturgeschichtlich […] besondere Bedeutung“, erläutert Weiershausen weiter, „erlangt die Trilogie“ dadurch, dass sie psychoanalytische „Einsichten eröffne[t], die vielgestaltig bleiben; Ahnungen von Beweggründen und Zusammenhängen vermittelnd, die nicht vollständig aufgelöst werden und dem Geheimnis des einzelnen Lebens sein Recht lassen“.
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