Erzählerische Kapriolen

Michael Wildenhain spielt mit einem mathematischen Beweisverfahren und kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: „Die Erfindung der Null“ als Selbstvergewisserungs- und Suchgeschichte

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rache oder Spiel? Was soll man davon halten, wenn ein mittlerweile gestandener Autor wie Michael Wildenhain den Buchbetrieb, das Rezensentenwesen und seine Leser/innen literarisch mit einem mathematischen Beweis traktiert. Und das auch noch perfiderweise, indem er die formalisierten Schritte der sogenannten vollständigen Induktion seiner Erzählung als Struktur zugrunde legt. Gäbe es nicht Ausnahmen wie Hans Magnus Enzensberger und Dietmar Dath, wäre wohl die generelle Annahme plausibel, dass literarische Interessen und mathematische Kompetenz einander ausschließen (was den Schreiber dieser Zeilen mit seiner Mathe-Abschlussnote einbezieht). Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Wildenhain’sche Versuch auf Verständnis, ja Gegenliebe stößt, ist also gering.

Und dennoch versucht‘s dieser Michael Wildenhain damit, der eben nicht nur Häuser besetzt und mit Steinen nach ich weiß nicht wem geschmissen (nehmen wir seine Romane mal biografisch ernst), sondern auch noch Mathematik studiert hat (nehmen wir seine Biografen ernst). Als selbstbewusster, matheinkompetenter Leser wäre es ein Leichtes, seinen neuen Roman zum Teufel zu schicken, oder wohin auch immer (soll heißen arrogant zu ignorieren). Aber ein bisschen Stolz auf die eigene Intelligenz lässt davon Abstand nehmen.

Und das umso eher, als der Erfindung der Null ein vermeintlicher Kriminalfall zugrunde liegt, und seit Sherlock Holmes wissen wir ja, dass in Krimis Deduktion, Abduktion und vielleicht auch Induktion eine größere Rolle spielen können. Manchmal anders als gedacht, aber man will sich ja auch überraschen lassen. Immerhin gibt es eine Einstiegsmöglichkeit in das Konstrukt, das da auf knapp 300 Seiten ausgebreitet wird, die auch ein/e Normalleser/in wahrnehmen kann. Krimi können wir alle.

Aber das funktioniert hier nur bedingt, denn als Erstes muss hingenommen werden, dass hier gegen die von den anderen Autoren, Behörden und Leser/innen beharrlich verfolgten Bemühungen um Aufklärung (und den dazu notwendigen Methoden) erzählt wird. Ja, es gibt einen Staatsanwalt und Polizisten, die Daten und Informationen sammeln, um zu klären, ob hinter dem Verschwinden einer Touristin namens Susanne Melforsch im gebirgigen Südfrankreich ein Mord steckt, für den ihr Urlaubsbegleiter, der verkrachte Mathematiker Martin Gödeler, verantwortlich zu machen ist. Darauf deuten Blutspuren auf einer Jeans hin, die man von der verschwundenen Frau gefunden hat, ein Streit zwischen Gödeler und seinem vermeintlichen Opfer kurz vor der Tour, die beide unternommen hatten, und das verdächtige Verhalten des Mannes, der sich nach dem Verschwinden der Frau schnell wieder nach Deutschland abgesetzt hat. Flucht oder Heimkehr? Wer weiß das schon.

Ein Ermittler – und ein Staatsanwalt sowieso – will so etwas aber wissen, nicht zuletzt um zu klären, wo die Frau abgeblieben ist, tot oder lebendig. Diesem Zweck dienen auch vorgeblich die langen Gespräche zwischen Gödeler und dem ermittelnden Staatsanwalt, in denen – warum auch immer – Gödeler sein Leben und das von Susanne Melforsch detailliert erzählt. Dabei kommt zwar etwas heraus, aber was war das noch mal? Wahrheit?

Jedenfalls liegt ein großer Teil der Antwort in der Erzählung selbst. Statt aus dem, was man hat, sieht, erkennt und weiß, die Tat ableiten zu können (was eben keine Deduktion, sondern eine Abduktion wäre), bemüht Wildenhain die Induktion, ein Verfahren, das – kurz gesagt – ja behauptet, dass, hat man einen Beweis zu einer Sache erfolgreich durchgeführt, er auch für die gleich gelagerten anderen Sachen gilt, noch knapper: kriegt man eine, hat man alle. Freilich, die Frage ist, was ist das eine, das zu beweisen ist, um alles andere bewiesen zu haben: ein verpfuschtes, ein misslungenes Leben? Oder der Status quo? Oder das denkwürdige Verhältnis von Vätern und Söhnen? Etwa dass sie sich nicht aus dem Weg gehen können? Was hiermit bestritten wird.

Bleibt aber immer noch die nach dem Schema der vollständigen Induktion strukturierte Erzählung, die nach Grundlegungen und Durchführungen unterscheidet und schließlich zu einem Ergebnis führt, soll heißen ein Ende hat, in dem einigermaßen alles zusammengebunden, -geführt und aufgehoben wird, was bis dahin an Geschichten aufgeworfen worden ist. Die gescheiterte Unikarriere des Herrn Gödeler, der zu Beginn seines Studiums zwar Hygienemängel aufweist (Dusche!), aber ein höchst talentierter Mathematiker ist. Oder die Beziehungen, die Gödeler im Laufe der Jahre hat, von denen alle irgendwie mit Mathematik zu tun haben, die aber dennoch alle scheitern: Seine Ehefrau entschließt sich, als Grundschullehrerin zu arbeiten, statt an mathematischen Beweisen (salopp gesagt). Nr. 2, das enfant terrible der Matheszene, setzt sich nach einem politisch motivierten Attentat auf die Siegessäule ab und verschwindet aus Gödelers Leben. Selbst Susanne Melfrosch, der Gödeler attestiert, von Mathe keine Ahnung zu haben, hat ihn bei einer einschlägigen Vorlesung das erste Mal wahrgenommen.

Alles schön und gut und vom Autor hinreichend aufgebrezelt, nicht zuletzt durch die klingenden Namen (Gödeler erinnert nicht zuletzt an den berühmten Mathematiker Karl Gödel, der über ein populäres Buch von Douglas R. Hofstaedter zur künstlichen Intelligenz weit über mathematische Kreise hinaus bekannt wurde, Ein endloses geflochtenes Band, 1979, dt. 1985).

Auch dass Gödeler als Nachhilfelehrer endet, kann man als konsequent ansehen, aber – und da fangen die Fragen an – sein Leben beweist das ganz und gar nicht. Am Schluss wird aufgedeckt, warum das die ganzen Seiten lang überhaupt erzählt wurde. Also alles nur eine Spielerei? Grundlegung, Ableitung, Durchführung und Beweis nur Kokolores, Fassade? Wohl ebenso wenig wie der Titel, Die Erfindung der Null, der ja mit der vollständigen Induktion nichts zu tun hat, aber mit der Erzählung, wenigstens dann, wenn man Gödeler als Nullstelle dieses kleinen erzählerischen Kosmos‘  versteht, die da vor einem entwickelt wird. Michael Wildenhains Roman bleibt damit immer noch eine anspruchsvolle Zumutung für seiner Leser/innen, was eigentlich von einem solchen Projekt zu erwarten ist.

Titelbild

Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020.
303 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608983050

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