Die drei Leben des Dada-Künstlers Kurt Schwitters

Ulrike Draesner erzählt „Schwitters“

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits in ihrem Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt von 2014 setzt sich Ulrike Draesner mit der Frage auseinander, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren. Dass sich die 1962 geborene Münchner Autorin nach umfangreichen Recherchen zu Flucht, Exil, Vertreibung und Heimatlosigkeit weiter mit dem Thema beschäftigen würde, war ihr klar. Nur wie? Ob es Zufall oder Fügung war: Auf jeden Fall war Draesner im Herbst 2015 in Oxford und auf der Suche nach einem neuen Stoff, als ihr die Gastgeberin erzählte,

wie Kurt Schwitters 1937 als sogenannter „entarteter Künstler“ ins Exil nach Norwegen gezwungen wurde und wie ihm, als Norwegen 1940 von den Deutschen überrannt wurde, im wirklich letzten Augenblick die Flucht über das Meer nach England gelang. Zunächst kam er für über ein Jahr in ein Gefangenenlager und verbrachte dann die letzten Lebensjahre bis 1948 in London und im englischen Lake District. Das Thema Flucht und Exil stand im Raum, diesmal gepaart mit der Frage nach der Kunst.

Damit lag der Stoff vor ihr – und fünf Jahre später liegt der 500-seitige Roman Schwitters nun vor, erschienen im August 2020 im Penguin Verlag. Mit der Lektüre dieser Künstlerbiografie in Romanform, die auf umfangreichen Recherchen basiert und gleichzeitig in großen Bögen und kleinsten Details ein Leben erzählt, begeben sich die Leser*innen selbst auf eine Reise von Deutschland über Norwegen nach England, begleitet von Schwitters, dessen Ehefrau Helma, dem gemeinsamen Sohn Ernst sowie später von Edith Thomas, der Geliebten, die doch viel mehr war, als was die Bezeichnung umfasst, auch wenn er sie nie geheiratet hat.

Es war der 12. Oktober 1936, als gegenüber des Wohnhauses der Schwitters in Hannover die Lastwagen auffuhren. Die ganze Habe der jüdischen Familie Tossioni wurde eingepackt und weggefahren. An diesem Morgen begriff Kurt Schwitters, der bereits im Sommer 1933 sowohl von der Stadt Hannover wie der Villa Pelikan entlassen worden war, dass die Bedrohung für den Künstler greifbar nahe war. Es dürfte zunehmend schwieriger werden, sich in die Arbeit am MERZbau, der auch „Kathedrale des erotischen Elends“ genannt wurde, zu vergraben. Trotzdem schien ihm eine Ausreise aus Deutschland damals noch weit weg.

An diesem Tag setzt Ulrike Draesner mit ihrem Roman ein und folgt im ersten Teil Das deutsche Leben ab da den Stationen von Schwitters Lebensweg: Nicht einmal drei Monate später, nämlich am 2. Januar 1937, verließ der Künstler Hannover für immer. Er fuhr zuerst nach Lysaker in der Nähe von Oslo, wo Ernst, der Sohn, bereits mit seiner Frau Esther lebt. Helma, Kurts Ehefrau und Stütze über Jahrzehnte, blieb in Hannover mit Mutter (nazi-begeistert) und Schwiegermutter (das Gegenteil) zurück. Sie wollte die beiden Männer von Deutschland aus unterstützen, fuhr in den ersten Jahren regelmäßig nach Norwegen, bis auch dies nicht mehr möglich war, nachdem die Deutschen Norwegen am 9. April 1940 überfallen hatten.

Kurt, Ernst und Esther gelang es, gerade noch rechtzeitig aus Norwegen zu flüchten, zuerst nach Schottland, später kamen sie nach England. Mehr als ein Jahr verbrachte Schwitters im Gefangenenlager auf der Isle of Man. Helma sollte er nicht mehr wiedersehen, sie starb am 29. Oktober 1944 an Brustkrebs, was Kurt jedoch erst im Dezember 1944 erfuhr. Er hatte nichts gewusst von ihrer Krankheit, nicht, wie es ihr ging. Zu diesem Zeitpunkt lebte er längst in London (seit 1941) und mit Edith Thomas, genannt Wantee, zusammen, die sich liebevoll um ihn kümmerte und ihn unterstützte. Flucht, Aufenthalt im Gefangenenlager, Verunsicherungen rundum und überall waren Gift für seine bereits angeschlagene Gesundheit.

Im zweiten Teil Das englische Leben begleiten wir das Paar Kurt und Wantee erst in London, später in Ambleside im Lake District. Wenn auch unter prekären Bedingungen, hatten sie einen Ort zum Leben gefunden. Und sie hatten sich. Liebe, so der Eindruck beim Lesen, könnte so sein. Auch wenn sie dem klassischen Muster „älterer Künstler – jüngere Geliebte“ entsprach. Und gleichzeitig auch wieder überhaupt nicht. Für Kurt war Wantee – ganz Cliché – die lebensnotwendige Stütze, ohne sie hätte er kaum durchhalten können. Er war verliebt und er liebte sie. Wantee fühlte echte Zuneigung zu diesem Mann, der sie faszinierte, immer wieder neu. Was als Begegnung mit offenem Ausgang begann, entwickelte sich zu einer tiefen Liebe, wie sie selbst es nie erwartet hätte. Deshalb wohl auch tauchte die Frage nach einer Legalisierung der Beziehung nicht auf. Dass Kurt Schwitters zu spät erkannte, welche Folgen dies nach seinem Tod für Wantee haben könnte, ist im dritten Teil Das Nachleben nachzulesen. Sohn Ernst ließ keinen juristischen Schritt aus, um das Testament, das sein Vater wenige Tage vor seinem Tod neu geschrieben hatte, anzufechten. Es war ein unwürdiger Streit. Und letztlich eine bekannte Geschichte, dass der Sohn nicht akzeptiert, wenn der Vater seine Geliebte als Haupterbin einsetzt.

Ulrike Draesners Roman Schwitters ist ein großer Lesegenuss. Sie wählt für die drei Teile nicht nur unterschiedliche Strukturelemente (Kapitelbezeichnungen etwa), sondern auch eine Sprache, die immer Bezug nimmt zum künstlerischen Umfeld, in dem sich der Protagonist Schwitters bewegt. Schwitters ist keine Biografie, und doch lesen wir Schwitters Leben. Schwitters ist kein Künstlerbuch, und doch erfahren wir viel über Dadaismus, Malerei, bildende Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schwitters ist kein Roman über einen deutschen Künstler während des Nationalsozialismus. Schwitters ist all dies zusammen und gleichzeitig noch viel mehr, nämlich ein souverän geschriebener Roman mit dem Künstler Kurt Schwitters als Protagonist, dessen Kunst früh schon als „entartet“ verboten wurde; der gescheitert ist als Ehemann und gleichzeitig ein Leben lang seiner Frau Helma verbunden blieb; der sich glücklich schätzte, in Wantee die zweite Frau fürs Leben gefunden zu haben; der erkannte, welche Gefahr für sie von seinem Sohn ausging, dem manches nicht gelang, vor allem nicht, Edith Thomas rechtzeitig und rechtsgültig als seine Haupterbin einzusetzen.

Sprache zeichnet diesen Roman aus – oder vielmehr Sprachen. Schwitters war gezwungen, zur englischen Sprache zu wechseln, er sollte nicht mehr zur deutschen zurückkehren. Ulrike Draesner, die nicht nur als Autorin von Romanen, Erzählungen, Gedichten und Essays bekannt ist, sondern ebenso als Übersetzerin – unter anderem hat sie die Gedichte der Literaturnobelpreisträgerin 2020 Louise Glück ins Deutsche übertragen –, hatte erst vor, diesen Roman auf Englisch zu schreiben und danach ins Deutsche zu übersetzen, ein Vorhaben, das sich als undurchführbar erweisen sollte. Doch eines steht fest: Sie hat ihre Sprache für Schwitters Geschichten gefunden und uns mit Schwitters reich beschenkt.

Titelbild

Ulrike Draesner: Schwitters. Roman.
Penguin Verlag, München 2020.
480 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601265

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