Überlebensstrategien und Ersatzhandlungen

Deniz Ohdes überzeugender Debütroman „Streulicht“ handelt von feinen Unterschieden und Aufbruch

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich lebe in einem anderen Zeichensystem“, bemerkt die namenlose Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes verheißungsvollem Debüt Streulicht. Die Tochter eines deutschen Arbeiters, der „vierzig Jahre Aluminiumbleche in Laugen“ tunkte, „vierzig Stunden die Woche“, und einer türkischen Mutter, die der Armut aus einem kleinen Dorf an der Schwarzmeerküste entfloh, kommt anlässlich der Hochzeit ihrer Jugendfreunde Sophia und Pikka ins Elternhaus, in die Etagenwohnung am Rande eines Industrieparks – Frankfurt-Höchst ist erkennbar – zurück. Es sind zunächst räumliche und vor allem atmosphärische Veränderungen oder besser eher festgefrorene Zustände, die bei der Rückkehr der Studentin aus einer entfernteren Stadt die Szenerie bestimmen und die die Erzählerin zu lesen versteht:

Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer durch die Straßen geht.

Neben den örtlichen Gegebenheiten sind es vor allem aber die sozialen Zeichensysteme, mit Pierre Bourdieu gesprochen, die „feinen Unterschiede“, oder vielmehr die weniger feinen Abgrenzungen und vor allem die mehr oder minder subtilen chauvinistischen und rassistischen Verletzungen, deren sich die Erzählerin – meist chronologisch – erinnert.

Streulicht ist ein doppelter Bildungsroman. Er erzählt vom Leben im Dunstkreis des Chemieparks, vom diffusen Licht, eben dem Streulicht der Fabrikanlagen, ihren Geruchs- und Geräuschemissionen, von der stillgestellten Zeit, dem Stillleben im Elternhaus, dem verpassten Leben, den nicht gelebten Träumen der Eltern im deutsch-türkischen Arbeitermilieu wie auch im ganzen Viertel. Der Vater und der später fast erblindete Großvater der Erzählerin, die das Leben in der engen und muffigen Wohnung teilen, vollgemüllt mit allem möglichen Trödel, den Vater und Großvater anschleppen, verharren zeitlebens in ihrer Sprachlosigkeit:

Ich stellte mir die beiden am Küchentisch vor, müde nach der Arbeit. Manchmal sagte mein Vater etwas, und der Großvater antwortete ihm mit einem gebellten ‚Achjo!‘, dann sagte er nichts mehr. Sein Zimmer war umstellt von Schränken, in denen er jede Hose und jedes Oberhemd aufhob, das er je getragen hatte; alle Unterhemden, die ihm zu klein geworden waren, und Handtücher, immer diese Handtücher, die vom Verschleiß schon beinahe durchsichtig geworden waren und als Motive Teekannen und Enten hatten. […] Der Boden übersät von achtlos abgelegten Zetteln aus der Berufsschule, Überraschungseierfiguren, Comicheftchen, Verpackungen von Schokoriegeln. […] Einmal lackierte er den vordersten Schrank passend zur Wandfarbe (hellbraun), der rührende Versuch, den Raum wohnlicher zu gestalten. Sein Vater sagte zu solchen Bemühungen nur: ‚So was brauch‘ mer nicht.‘

Aus diesem Milieu vermag der Vater sich nicht zu lösen; die Lebenslust der türkischen Mutter, die ihren Vater früh verliert, von ihrer Mutter nicht geliebt wird und im Nachhinein ihrem 500 Seelen Dorf märchenhafte Züge zuschreibt, erlischt in dieser gefühlskalten Atmosphäre aus Anpassungsdruck und Sprachlosigkeit, zumal bei den Alkoholabstürzen ihres Mannes immer wieder auch Dinge zu Bruch gehen. Früh stirbt sie. „,Hier ist alles beim Alten‘, sagt mein Vater nochmals“, als die Tochter aus der fernen Stadt zur Hochzeitsfeier eintrifft. Die Dinge sind wie vor ihrem Wegzug an die Uni wie immer an ihrem Platz, der Geruch ist derselbe, die Geräusche sind dieselben.

Die Lebensmittel, die sich auf der Küchenzeile stapeln, die blaue Plastiktüte mit dem alten Brot, dieser Überfluss an Essen und billigen Möbeln, die niedrigen Decken, das Weiße der Wände, das sich über die Jahre gelb gefärbt hat, die sich stapelnden Fernsehzeitungen, der PVC-Boden vor dem Herd und der Korkboden im Flur, der sich an einigen Stellen löst; all diese Dinge, die ich wiedererkenne. Die fleckige Tischdecke, die zur Hälfte mit Tassen vollgestellt ist, die alte Thermoskanne mit von kaltem Kaffee verkrusteter Öffnung, der Kühlschrankmagnet einer Käsefirma [….].

Wie das Aufbruchs- und Ausbruchsbegehren der Mutter erstickt, so findet der Vater in seinen Alkoholexzessen keinen Halt. Auch der verzweifelte Versuch, sich mit dem Kauf und dem Anhäufen von Ramsch- und Billigprodukten am Althergebrachten festzuhalten, sich Veränderungen zu widersetzen – Besucher, „Fremde“, werden deshalb erst gar nicht eingeladen –, führen nur weiter hinein in stumpfe Sprachlosigkeit, in die Unfähigkeit, Gefühle zu artikulieren, Gefühle zu zeigen.

Das ganze Leben meines Vaters war eine einzige Ersatzhandlung. Er hortete Zeitungen und Konserven, sammelte Produkte, die vor Monaten eingeschweißt in dünnes Plastik im Briefkasten gelegen hatten und von denen täglich neue hinzukamen. Jede Fernsehzeitung hob er auf; sie waren adressiert an seine Mutter, die ich nie kennengelernt hatte. Er hatte mit sechzehn angefangen zu arbeiten, etwas anderes, ein eigenes Wollen, war für ihn nicht denkbar gewesen.

Ohdes Erstling erzählt aber auch vom Aufbruch der Außenseiterin durch Bildung, vom Willen der Erzählerin, sich durch Bildung aus diesem Milieu zu befreien. Notwendig ist dabei das mühsame Erlernen verschiedener Zeichensysteme. Den Vater, der auf seinen Arbeiterstatus stolz ist, zugleich sich und vor allem den Bildungswunsch der Tochter kleinredet, gilt es für die Tochter ebenso zu lesen wie auch die feinen Unterschiede in der bürgerlichen Gesellschaft von Sophia und Pikka und deren Eltern. So ist in der Tat das Lesen von Zeichensystemen für die Erzählerin lebensnotwendig: „‚Du tauchst immer so aus dem Nichts auf‘, hat Sophia oft zu mir gesagt, und ich habe gelächelt, als wäre meine Lautlosigkeit eine charmante Eigenschaft und nicht Ausdruck einer erlernten Überlebensstrategie.“

Während die Freundin aus wohlhabendem Hause (mit Reitunterricht und vielem mehr) Vokabeln paukt, lernt die Erzählerin auf dem Gymnasium erstmal schmerzlich die kulturellen Codes zu lesen. Die Schülerin lernt latenten Rassismus oder offene Fremdenfeindlichkeit bei Mitschülern wie auch Lehrern kennen, eine körperliche Attacke eines Mitschülers wird heruntergespielt, zum Un- und Zufall erklärt: „,Ein Unfall‘, sagte die Schulkrankenschwester, ‚nichts passiert‘, und ließ ihre Finger über mein Gesicht wandern, da, wo es auf den Boden geschlagen war. ‚Ein Unfall‘, sagte die Lehrerin zu meiner Mutter. Ein Unfall, und ein unglücklicher Zufall mit dem Probealarm.“

Doch gegen alle Widrigkeiten schafft es die Erzählerin aufzubrechen. Dem Schulabbruch auf dem Gymnasium, als die Lehrer gnadenlos von „aussieben“ reden, als statt dem Stundenplan das Fernsehprogramm auf der täglichen Agenda steht, folgt bald der Aufbruch an die Abendschule und schließlich die Rückkehr ans Gymnasium mit glänzendem Abschluss und der Aufbruch zum Studium, auch gegen alle naiven Einwände und Feindseligkeiten der alten Freundin Sophia („Ob das das Richtige für Dich ist?“). Auch im Studium läuft es zunächst nicht so wie erhofft, zumal die Scham, nicht zu bestehen, drückt. Und doch. Während die bildungsbürgerlichen Freunde Pikka und Sophia in ihrem Ambiente verharren, nicht aus der Industriepark-Gegend wegziehen, bricht die Erzählerin wieder auf – im Text auch wiederholt enggeführt mit dem „Weggang“ einer Selbstmörderin, die sich an Heiligabend in die Luft gesprengt hat. Am Schluss bleibt der gleichermaßen rührende wie hilflose Satz des Vaters, seiner Tochter Halt zu bieten: „Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim.“

Streulicht ist eine dichte, authentische und schnörkellose Erzählung einer gleichermaßen schmerzlichen wie befreienden Identitätssuche. Ohdes autobiografisch grundierter Roman eines hoffnungsvollen Aufbruchs, der noch nicht an sein Ende gekommen ist, ist ein starkes Debüt.

Ein Debüt wurde in der eineinhalb Jahrzehnte jungen Geschichte des Deutschen Buchpreises noch nicht ausgezeichnet, und es gelingt auch der 32-jährigen Deniz Ohde diesmal nicht. Doch unabhängig davon haben Streulicht und seine Autorin schon gewonnen, der Roman hat literarische Aufmerksamkeit auf sich gezogen und steht zurecht auf der sechs Titel umfassenden Shortlist für den diesjährigen Buchpreis. Zudem wurde Streulicht mit dem Jürgen-Ponto-Preis ausgezeichnet und gerade wurde Ohde dafür der diesjährige ZDF-Aspekte-Literaturpreis zugesprochen. Wenn das kein vielbeachteter und verheißungsvoller Aufbruch für eine erfolgreiche Autorinnenkarriere ist!

Titelbild

Deniz Ohde: Streulicht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
284 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429631

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