Rüdiger Scholz über die „heimliche Autobiographie“ Lessings und die Rätsel seines Innenlebens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lessings Innenleben ist auch nach 250 Jahren intensiver Diskussion seines Werkes und seines Lebens ein Rätsel, seine psychische Biographie weitgehend unbekannt. Wie Lessing Konflikte, Krisen, Ängste, Depressionen verarbeitete, weiß man nicht. Die Art der Verbindung zwischen den hellsichtigen Konflikten der Dramenfiguren und der Psyche des Autors liegt nach wie vor im Dunkeln.

Im Gegensatz zu dem Generaltenor der Lessing-Forschung, die sich auf die literarischen und politischen Kämpfe konzentriert, geht die Untersuchung von Scholz von der Hypothese aus, dass die dichterischen Werke, auch die anakreontische Lyrik und die Jugenddramen, sehr viel zu tun haben mit Lessings persönlichen, privaten Problemen. Aus der Reihe der Vaterfiguren und dem Schicksal der Söhne und Töchter, den Hauptthemen von Lessings Dramen werden Rückschlüsse auf Lessings Charakter und Innenleben gezogen und vermittelt mit Lessings Verhältnis zu seinen Eltern und seinen Geschwistern, zu den Autoritäten Friedrich II. und Voltaire, ferner mit seinen Männerfreundschaften auf dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Weigerung zu heiraten.

Beim Nathan liegt der Akzent auf der Tragödie von Recha und dem Templer, Nathan erscheint als Nachfolger von Odoardo Galotti. Christlob Mylius wird als großer Wissenschaftsjournalist und Humanist auf 65 Seiten neu bewertet. Der Briefwechsel mit Eva König erfährt eine detailgenaue psychologische Analyse, die auch Aufschlüsse über Lessings Spielsucht gibt. Von den Resultaten der psychischen Biographie aus führt der Weg zur Verschränkung von individueller Biographie und persönlicher Motivation mit der deutschen Gesellschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts.

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Titelbild

Rüdiger Scholz: Die heimliche Autobiographie des Gotthold Ephraim Lessing.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
500 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826069956

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