Philosophieren in der Wanne und Erzählen in Kompartimenten

Jean-Philippe Toussaints „Das Badezimmer“ reloaded

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

35 Jahre ist er alt – Jean-Philippe Toussaints Romanerstling Das Badezimmer. Seine Anfänge waren eher holprig, weil es der Autor nicht leicht hatte, den Text bei einem Verlag unterzubringen. Nur die Editions de Minuit unter der Ägide von Jérôme Lindon wagten die Veröffentlichung und lancierten damit einen Best- und Longseller. Es ist eine rundum begrüßenswerte Entscheidung, die deutsche Ausgabe wieder herauszubringen und sie mit einem Nachwort des Übersetzers Joachim Unseld zu erweitern. Die „Arbeit mit dem Palimpsest“ beherrsche Toussaint „bis zur Perfektion“, so Unseld, durch „Beziehungsvielfalt“ ergebe sich eine „referentielle Dichte“, die „nicht nur außergewöhnlich für ein literarisches Werk, sondern auch intellektuell faszinierend sei“.

Schon lange gilt Das Badezimmer als Prototyp des „nouveau nouveau roman“. Die Prinzipien des Manifests Pour un noveau roman von Alain Robbe-Grillet werden in ihm einerseits auf die Spitze getrieben, andererseits virtuos variiert. Da ist als Erstes die minimalistische Handlung in drei großen Teilen, zerfallend jeweils in kurze durchnummerierte Kompartimente des Erzählens. Die Geschichte eines namenlosen Helden kommt gleichermaßen spektakulär wie simpel daher und ihre vordergründige Linearität ist leicht zu dekonstruieren. Ein 27jähriger arbeitsloser Historiker, der eigentlich an seiner Doktorarbeit schreibt, beschließt, fortan in seiner Badewanne zu leben. Dort liegt er stundenlang, elegant gekleidet, meditierend, die Außenwelt ignorierend. Immerhin empfängt er seine Mutter. Außerdem hat seine Freundin Edmondsson zwei Kunstmaler engagiert, die die Küche streichen sollen. Anstatt mit der Arbeit zu beginnen, beschäftigen sich diese stundenlang damit, die Tintenfische zu filetieren, die sie für das Abendessen mitgebracht haben.

Der zweite Teil beginnt mit der fluchtartigen und eher unmotiviert erscheinenden Abreise nach Venedig, der Aufenthalt dort ist von Müßiggang geprägt, verbringt der Protagonist seine Zeit doch fast ausschließlich im Hotel, trinkt Kaffee in der Bar und spielt Darts in seinem Zimmer. Edmondsson, die in Venedig eintrifft, besichtigt die Stadt, ihr Freund begnügt sich weiterhin mit den Pfeilen, mit denen er sie einmal so verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden muss.

Zu Beginn des dritten Teils reist sie ab, er bleibt in Venedig. Wegen einer Nasennebenhöhlenentzündung begibt er sich in eine Klinik, besteht auf einer stationären Aufnahme, reist dann aber nach Paris, als in seinem Krankenzimmer das Nachbarbett belegt wird. Zu Hause kehrt er in die Badewanne zurück. Als Edmondsson ihm, wie bereits bei seinem ersten Aufenthalt in der Wanne, eine Einladung zu einem Empfang in der österreichischen Botschaft bringt, verlässt er das Badezimmer.

Romane sollten nicht mehr den Eindruck erwecken, anthropozentrisch zu sein – so ein weiteres Postulat Robbe-Grillets. Toussaints Badewanneninsasse nehme sich selbst nicht so wichtig – so ist der Tenor der bisherigen Kritik. In seinem Nachwort betont Unseld die Nähe des „Manns ohne Namen“ zu Musils Mann ohne Eigenschaften und wundert sich zu Recht, weshalb diese Referenz bisher nicht genauer untersucht worden ist. Mit Musil eröffne sich „ein neuer Raum, in dem man mehr über den zunächst so mysteriösen Toussaintschen Helden erfahren“ könne. So wie Ulrich aus dem Mann ohne Eigenschaften sage er nicht „Nein zum Leben“, sondern „Noch nicht!“. Bei dieser Annahme bleibt Toussaints „Mann ohne Namen“ zwar ein „Anti-Held“, aber einer, der nicht in der Endgültigkeit des Abgeschiedenen verharrt, sondern abwartet, das Leben auf sich zukommen lässt, um später in einer Welt zu agieren, die einfach da ist, was eine weitere Maxime aus Robbe-Grillets Manifest in Erinnerung bringt. Die Welt, in der sich die Menschen bewegen, sei weder sinnstiftend noch absurd, sondern im einfachen ontologischen Sinne bestehend. Ziemlich „unparteiisch“ lässt der Ich-Erzähler sie an sich vorbeidefilieren, nicht ohne sie sehr detailliert wahrzunehmen, sie so wie die Maler die Tintenfische zu sezieren, ohne sich explizit zu positionieren.

Nichtsdestoweniger ist dem Roman selbst eine ironische Perspektive auf die Welt immanent, die sich bereits in seinem Motto, nicht mehr und nicht weniger als der Satz des Pythagoras, manifestiert. ParisHypotenuseParis, so sind die drei Teile überschrieben. Eine Gleichung mit ihren Abschnitten, 40, 80 und 50, auszumachen, erscheint obsolet, aber eventuell nicht ganz, weil die Hypotenuse zumindest die quantitative Priorität besitzt. Zudem ist das Dreieck verschiebbar, denn Toussaint hat die Interpretation eines Freundes bestätigt, dass man nämlich die Lektüre des Romans auch mit dem zweiten Teil beginnen könnte, so dass sich die Abfolge HypotenuseParis (2. Teil) – Paris (1. Teil) ergäbe.

Vor allem anderen jedoch beweist das mathematische Motto den unbefangenen Umgang Toussaints mit interdisziplinären und intertextuellen Verweisen. Sein Engagement gilt, ganz im Sinne der Rahmung durch den „Nouveau Roman“, der Art und Weise des Schreibens, konkret der paradoxen Spannung eines multidimensionalen Minimalismus, zum einen ruhig dahinplätschernd, zum anderen großartige Inspirationsquellen direkt benennend – im Badezimmer Blaise Pascal und Piet Mondrian. Beide propagieren Statik – Pascal die Ruhe abseits der Welt und Mondrian die geometrische Abstraktion. Malerei sei eigentlich nie bewegungslos, nur bei Piet Mondrian, bei ihm sei die „Bewegungslosigkeit bewegungslos“. Das gebe ihm Sicherheit, so der Ich-Erzähler, macht ihm aber auch Angst, zumal seine Albträume „schnörkellos“ und „geometrisch“ sind, „rigides“, so wie es im französischen Text heißt, eher rigide oder starr also. Dazu passt der Rückzugsort und die damit einhergehende, zunächst implizite Reminiszenz an Pascal, der bekanntermaßen alles Unglück an die Unfähigkeit der Menschen knüpft, nicht in einem Zimmer bleiben zu können und immer auf der Suche nach Zerstreuung zu sein. „Condition de l’homme: Inconstance, ennui, inquiétude“ – so lautet eine der berühmtesten Sentenzen Pascals zur conditio humana.

Während Pascal den Ausweg aus dem Dilemma der zwanghaften Unstetigkeit in der Abgeschiedenheit der Studierstube und in der gnadenvollen Zuwendung Gottes zum Menschen sieht, sucht Toussaints Ich-Erzähler zwanghaft nach Ruhe, in der Wanne und später in den langsamen Bewegungen mit den Pfeilen, die an Zen-Buddhismus erinnern. Damit reibt er sich an den Personen in seinem Umfeld und es nimmt nicht wunder, dass seine Mutter ihm zur Zerstreuung rät. Wenn Pascal schließlich genannt wird, geht es vor allem um die Möglichkeit der Tröstung. Im Hotelzimmer findet der Protagonist eine englische Ausgabe von Pascals Gedanken und dass aus dieser auf Englisch zitiert wird, markiert einen Höhepunkt des Romans, vielleicht die Klimax des Signifikativen, vielleicht aber lediglich die Kulmination des Spiels.

Wenn man die Suche nach „consolation“ – und auch exakt diese, es geht ihm nicht um „to comfort“, sondern um „to console“ – ernst nimmt, dann sind sowohl die schützende Wanne als auch Mondrians Bilder unzulänglich. Beide bedeuten Erstarrung, sind nicht tiefgreifend, können in ihrer Imperfektion existenziell nicht genügen. Das Sinnbild der Perfektion zeichnet sich vielmehr von Anfang an in einem Dessert ab, der Dame Blanche, die der Protagonist kurzerhand in den Status eines Mondrian erhebt:

Mir erschien diese Kombination wie die Vollkommenheit schlechthin. Ein Mondrian. Die dickflüssige Schokolade über dem gefrorenen Vanilleeis, das Warme und das Kalte, das Feste und das Flüssige. Ungleichgewicht und Strenge, Genauigkeit. Ein Brathähnchen hält da, bei aller Liebe, bei dem Vergleich nicht mit.

Wochenlang schon habe er über dieses Bild der Vollkommenheit nachgedacht und sogar wissenschaftliche Überlegungen dazu angestellt. Dem Rest Ernsthaftigkeit dieser kuriosen Metapher macht der Verweis auf das Brathähnchen schnell den Garaus. So wie das Statische und das Dynamische nur im Moment eines Wimpernschlags konzertieren, so zerschlägt das Huhn das Bild, das beim Lesen entsteht. Typisch für Toussaint, dass Philosophieren immer mit einem Augenzwinkern geschieht, immer von Disjunktionen durchsetzt ist. Ansätze zur Kohärenz zerschellen, so etwa bei der Suche nach Trost, die von der Aggression gegen Edmondsson, die wie ein Fremdkörper in der meditativen Einkehr wirkt, relativiert und ironisiert wird.

Das Badezimmer inauguriert nicht zuletzt eine wesentliche motivische Konstante in Toussaints Werk: „das Gehäuse“, der kleine geschlossene Raum, das Badezimmer, später der Käfig, in dem Schrödingers Katze in seinem zweiten Roman, Monsieur, sitzt, die Telefonzelle in Der Photoapparat und schließlich eine Toilette in Der USB-Stick. Viele der Toussaintschen Protagonisten verspüren das Bedürfnis, sich abzuschotten, aus den beengten Orten der Separation heraus zu beobachten oder diese einer Analyse zu unterziehen. Nicht nur dabei wählt Toussaint den messerscharfen und präzisen Ausdruck, modelliert er sprachliche Miniaturen, die sich manchmal einer Übertragung entziehen.

Sätze als „polierte Oberfläche“ bilden nur die Spitze des Eisbergs, im Eigentlichen darunter lauern unter anderem lexikalische Fallstricke, die sich zwangsläufig in der Übersetzung offenbaren. Wie ist es beispielsweise mit dem Pascalschen „divertissement“? Ist es nur „die Ablenkung“, so wie Unseld überträgt, oder eventuell doch eher „die Zerstreuung“? Ähnliche Problematiken hält die französische Grammatik bereit, denn für den Dreiklang von Imparfait, Passé simple und Passé composé, den Toussaint ausschöpft, stehen im Deutschen nur zwei Tempi, Präteritum und Perfekt, zur Verfügung. Wo liegt der Unterschied zwischen dem „Le lendemain, je sortis de la salle de bain“ im ersten Teil und „Le lendemain, je sortais de la salle de bain“ am Ende des Romans? Unseld übersetzt beides mit „Am folgenden Tag verließ ich das Badezimmer“, anders ist es kaum möglich. Damit kann man der Besonderheit des Imparfait, dem oft mitschwingenden Unabgeschlossenen, der Wiederholung in der Vergangenheit, kaum gerecht werden. Nur eine Fußnote könnte hier Abhilfe schaffen.

Auf den ersten Blick scheint diese Offenheit aufs schärfste mit dem Inhalt zu kontrastieren, es sei denn, hier geht es um das Verlassen eines Zimmers in absurder Wiederholungsschleife. Dafür spricht tatsächlich der vorletzte Abschnitt, in dem die inhaltliche Offenheit das Spiel mit dem Imparfait einleitet. Der junge Mann fragt sich, ob er „das Wagnis eingehen“ solle, „die Seelenruhe“ seines „abstrakten Lebens aus Spiel zu setzen, um.“ Es folgt: „Ich beendete meinen Satz nicht“. Vor dem letzten Satz bleibt alles in einer Schwebe, die sich im französischen Text in den nächsten Abschnitt hinein fortsetzt. Somit schlägt sich die Konzeption eines abstrakten Lebens, das dem Ich-Erzähler vorschwebt, das Vexierspiel von Statischem und Dynamischem, Geschlossenem und Offenem, im Französischen auch im flexiblen Umgang mit den Vergangenheitsformen nieder.

Und solche tiefgründigen Petitessen sind es letztendlich auch, die dazu beitragen, dass sich die intellektuell faszinierende referentielle Dichte dieses Romans, so wie Unseld schreibt, „während der Lektüre auf den Leser übertragen muss, sei es diesem bewusst oder eben nicht“.

Titelbild

Jean Philippe Toussaint: Das Badezimmer.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2020.
140 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002817

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