Verschenktes Potenzial

Isabella Hammad legt mit „Der Fremde aus Paris“ einen opulenten Liebes- und Familienroman über einen Mann zwischen den Kulturen vor

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die junge und in London aufgewachsene Autorin lehnt sich in ihrem schon in 16 Länder verkauften und unter anderem von der New York Times hochgelobten Debüt an die Geschichte ihres Urgroßvaters an.

Hammads Protagonist Midhat reist zu Anfang des Ersten Weltkrieges mit dem Dampfer von Alexandrianach Frankreich, wo er Medizin studieren und zugleich dem Kriegsdienst entgehen möchte. Er kommt in Montpellier bei einem Dr. Molineau und dessen Tochter Jeanette unter und stürzt sich eifrig in sein Studium. Er erlebt ein Frankreich, das für ihn Inbegriff der Modernität ist, sich aber unter dem Krieg zunehmend verändert und ihm mit Misstrauen begegnet. Er „wurde täglich mehr zu einem Narren, zu einem Fremden, der die Bedeutung dessen, was er sagt, nicht im Griff hatte“ und sich im Durcheinander der Sprachen verliert. Seine behutsame Annäherung an Jeanette wird jäh unterbrochen, als er erfährt, dass Doktor Molineau ihn als philosophisch-anthropologisches Studienobjekt beobachtet hat. Midhat flieht überstürzt nach Paris, wo er sich an der Sorbonne für Geschichte einschreibt und sich als Frauenheld in das Nachtleben stürzt: „Die Pariser verhielten sich unter dem andauernden Druck des Krieges, als stünde das Ende der Welt bevor.“

Zurück in Nablus steigt Midhat in das florierende Tuchgeschäft seines Vaters ein und kann Jeanette für lange Zeit nicht vergessen. Jahre später erst heiratet er auf Druck der Familie Fatima und erlebt eine sich zunehmend zuspitzende politische Situation: Unter einem erwachenden Nationalbewusstsein radikalisiert sich der Kampf um die Unabhängigkeit Palästinas und zugleich siedeln sich dort immer mehr Zionisten aus Europa systematisch an. Schon hier zeigt sich die Uneinigkeit der Araber als entscheidendes Hindernis auf dem Weg zu einem eigenen Staat. Und dann wird Midhat ganz unerwartet und vehement von seiner Vergangenheit in Frankreich und seiner Liebe zu Jeanette eingeholt.

Isabell Hammad ist für ihr Alter eine erstaunlich versierte und elegante Erzählerin, die ihren Roman mit reichlich orientalischem Lokalkolorit und politisch-historischen Hintergründen auflädt. Allerdings nutzt sie über die lange Spanne von 750 Seiten auch reichlich literarische Staffage und Füllmaterial und lässt ihren Roman ohne wesentlichen dramatischen Spannungsbogen etwas vor sich hinplätschern – erst gegen Ende nimmt er aufgrund der politischen und privaten Zuspitzung der Ereignisse noch einmal Fahrt auf. In der Zwischenzeit verschenkt sie aber so einiges an Potenzial, das in der kulturell-existentiellen Wurzellosigkeit ihres Protagonisten Midhat sowie im arabisch-jüdischen Konflikt eigentlich schon wunderbar angelegt ist.

Titelbild

Isabella Hammad: Der Fremde aus Paris.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020.
736 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876177

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