Heimat einmal anders

Über Jan Urbichs lesenswerte Problemgeschichte zum „Subjekt der Heimkehr in Dichtung und Philosophie der Moderne“

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema ‚Heimat‘ hat nun seit einigen Jahren Konjunktur in Politik und Kulturwissenschaften. In der Politik stehen der affektiven Wiederbesetzung der Kategorie in (mindestens) rechtskonservativen Diskursen einerseits linke und grüne Redefinitionsversuche einer postnationalen und nicht-essentialistischen ‚Heimat‘ und andererseits die harsche Kritik an sowohl reaktionären wie liberalen Bezügen auf ‚Heimat‘ gegenüber (wie sie beispielsweise der von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebene Band Eure Heimat ist unser Albtraum eindringlich formulierte). In den Kulturwissenschaften zeigt sich die Konjunktur nicht nur in lesenswerten diskursgeschichtlichen Arbeiten wie Susanne Scharnowskis Heimat: Geschichte eines Missverständnisses, sondern auch in einer neuen Aktualität der Kategorien Dorf und Provinz samt der zugehörigen literarischen Gattungen – erinnert sei nur an das von Werner Nell geleitete komparatistische Forschungsprojekt ‚Experimentierfeld Dorf‘ und die zahlreichen Publikationen, die aus diesem hervorgegangen sind.

Was also kann Jan Urbichs „kurze Problemgeschichte“ Das Subjekt der Heimkehr in Dichtung und Philosophie der Moderne zu diesem vielbeforschten Themenfeld beitragen? So einiges. Unmittelbar einleuchtend ist die Fokussierung, die Urbichs Essay an der literaturwissenschaftlichen Erforschung von ‚Heimat‘ vornimmt: Nicht Heimatdiskurse sind Gegenstand seiner Untersuchung, sondern die „idealtypische Grundsituation der Heimkehr“ (S. 40) – ein in der Literatur nicht nur der Moderne vielverhandeltes Motiv, das von Urbich allerdings nicht motivgeschichtlich untersucht wird, sondern in Hinblick auf die „zugespitzte Situation der existentiellen Heimkehr, […] in welcher für das Subjekt mglw. alles auf dem Spiel steht“ (S. 18, kursiv i.O.). Die Idee der Heimkehr könne, so die für den Essay grundlegende These, in der Moderne als eine „Gestalt des ‚unglücklichen Bewusstseins‘ sichtbar“ gemacht werden und damit einen Beitrag zum „geschichtlichen wie ethischen Erkenntnisfortschritt“ (S. 13) leisten. Heimkehr setzt Ich, Heimat und Fremde in ein Spannungsverhältnis; aus dessen poetischer und philosophischer Ausgestaltung lassen sich Veränderungen und Verschiebungen der Konzeption der modernen Subjektivität und des modernen Weltverhältnisses ableiten. Jan Urbichs Essay nimmt damit gleichermaßen eine Einschränkung wie Ausweitung seiner Valenz vor. Diese spannungsvolle Bewegung lässt sich auch am Aufbau der Arbeit ablesen.

Auf eine existenzphilosophisch argumentierende Einleitung, die Heimat in der Moderne überzeugend als Produkt ihres Verlustes bestimmt (vgl. S. 11), folgt ein philosophisch-theologischer Parforceritt durch die Idee der Heimkehr in der „älteren Philosophie und der christlichen Theologie“ (S. 17ff.). Die Stationen dieses zweiten Kapitels scheinen selektiv – Aristoteles, Hegel, die christliche Soteriologie und Nietzsche geben sich die Klinke in die Hand, Freuds ‚Wiederholungszwang‘ hat einen Kurzauftritt –, finden ihre Gemeinsamkeit aber in der Konzeption von Heimkehr als Kreisfigur, deren Modifikationen Urbich an den benannten Autoren und Denkrichtungen ausarbeitet. Heimkehr wird so in ihrer klassisch philosophisch-theologischen Konzeption sichtbar als „Engführung von Vollendung und Wiederherstellung“ (S. 32, kursiv i.O.). Diese Aufladung der Heimkehr stellt die Grundlage dar, um die im engeren Sinne moderne – sieht man von der seltsamen Stellung Nietzsches ab – Umdeutung der Idee der Heimkehr zu diskutieren. Das folgende Kapitel zu den „Umschlagsfiguren der Heimkehrverklärung“ (S. 39ff.) bereitet die eigentlichen close readings moderner Heimkehr-Texte vor, indem es an thematisch einschlägigen Gedichten von Wilhelm Müller, Karl May, Ludwig Ganghofer, Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine eine – nicht strikt chronologische – Entwicklung der lyrischen Verhandlung der Heimkehr skizziert. An den diskutierten Texten entwickelt Urbich, wie moderne Thematisierungen der Heimkehr die mit dieser verbundenen „Erlösungs- und Vollendungshoffnungen“ mit einer „tiefen Skepsis“ (S. 75) überlagern.

Den Stationen verschiedener Typen an Heimkehrfiguren stellt das vierte Kapitel über das „subjektphilosophische Problem[ ] der Heimkehr“ einen theoretischen Überbau zur Seite; mit Nietzsche, Levinas, Hegel und dem Psychoanalytiker Jean Laplanche wird die Bedeutung der Figur für die Subjektphilosophie zugespitzt: „In der Heimkehr wird das Subjekt gewissermaßen verwesentlicht, indem es einer essentiellen Bestimmung seiner selbst plötzlich als drängendes Problem ausgesetzt ist.“ (S. 80) Heimkehr und Subjekt-sein treffen sich im Rechenschaftsanspruch: Der Heimkehrer ist konfrontiert mit den Anderen – den Daheimgebliebenen – ebenso wie mit seiner und ihrer Vorstellung seiner selbst vor dem Aufbruch in die Fremde. Dieser auf das Subjekt in seinem Selbstverhältnis fokussierten Überlegung stellt Urbich eine mit Levinas argumentierende These zum Verhältnis von Subjekt und Heimat als existenzieller und ethischer Fundamentalerfahrung zur Seite: Wenn eine der Grundlagen dessen, ein moralisches Wesen zu sein, im Geben von Versprechen – verstanden als unbedingte Verpflichtung Anderen gegenüber – liegt und diese unbedingten Ansprüche der Anderen selbst als Transzendenz fassbar sind, so können die „Bindungen an das Zuhause […] als erste und primäre dieser Transzendenzerfahrungen […] und folglich als Keimzelle der moralischen Verfassung des Ich“ (S. 94) gelten, verlangt doch die Konfrontation von Heimkehrer und Heimat eine unabweisbare (und in ihrem Anspruch unerfüllbare) Rechenschaft.

Die damit sichtbar gewordene potenziell aporetische Dimension jeder Heimkehr – denn indem der Essay auf psychoanalytische und existenzphilosophische Theorien zum Verhältnis von Subjekt und Heimat zurückgreift, wird, bei Verzicht auf Historisierung der Theorien, der historische Marker des Problems mindestens verwischt – diskutiert Urbich in den folgenden drei Kapiteln an lyrischen Texten von Hölderlin und Eichendorff (Kapitel 5), Celan und Rilke (Kapitel 6) sowie einem kurzen Prosafragment Kafkas (Kapitel 7). Die close readings sind kenntnisreich und überzeugende philologische Arbeit – etwa wenn Eichendorffs Heimkehr kontrapunktisch als Erzählung von den „Mechanismen der Fortschreibung genealogischer Schuld- und Verpflichtungsverhältnisse“ (S. 130) interpretiert wird –, gelegentlich aber droht der im Gesamtessay geschlagene Bogen ‚zugunsten‘ der Einzelergebnisse verloren zu gehen (in diesem Zusammenhang fällt etwa das Ende des Kapitels zu Rilke und Celan negativ auf).

Doch ungeachtet solcher kleinerer Kritikpunkte hat Jan Urbich eine ebenso stilistisch lesenswerte wie literaturwissenschaftlich erkenntnisreiche Problemgeschichte vorgelegt, die durch die Fokussierung auf das Verhältnis des heimkehrenden Subjekts zum Zuhause dem derzeit breit diskutierten kulturwissenschaftlichen Thema ‚Heimat‘ neue und bedenkenswerte Seiten abgewinnt.

Titelbild

Jan Urbich: »Heimwärts kam ich spät gezogen«. Das Subjekt der Heimkehr in Dichtung und Philosophie der Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
199 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835335400

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