Geschichte und Gegenwart

Marina Frenks Debütroman „ewig her und gar nicht wahr“ erzählt von Familie, Verlust und Herkunft als Erinnerung

Von Luisa BankiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luisa Banki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ewig her und gar nicht wahr öffnet mit einem Prolog, der Thema und Tonart der folgenden ebenso streng wie schlau durchkomponierten 36 Episoden in einer zweiseitigen Nussschale präsentiert und auch gleich in eine programmatische Formel fasst: „Verloren gehen fühlt sich einsam an, aber auch interessant.“ Marina Frenks Debütroman erzählt vom Verlust der Heimat und der selbstverständlichen Zugehörigkeiten, vom Verlust, der jeden Aufbruch und jedes Ankommen begleitet; er schildert den Verlust der Liebe eines Paares ebenso wie den Verlust eines Körperteils und eines Kindes; er reflektiert, was verloren geht, wenn ‚unübersetzbare‘ russische Wörter ins Deutsche übersetzt werden; und er schildert den Selbstverlust seiner Ich-Erzählerin, die „sich nicht spürt“.

Frenk präsentiert ein Mosaik aus Episoden, in dem die Erfahrungen, Erinnerungen und Träume der Ich-Erzählerin gleichberechtigt neben Familiengeschichten von Verfolgung und Flucht, von früherem Leben und von Überleben stehen. Zeitlich und räumlich spannt der Roman den Bogen von 1941 bis in die Gegenwart und erzählt von Städten und Stränden in Deutschland, von Orten und Grenzen in Osteuropa und von Reisen nach Israel und in die USA.

In der Erzählgegenwart lebt die Ich-Erzählerin Kira Liberman – die wie die Autorin in Moldawien geboren wurde und in den 1990er Jahren als Kind mit ihrer jüdischen Familie nach Deutschland kam – mit entfremdetem Mann und kleinem Kind in Berlin, hat nach anfänglichem Erfolg ihre Karriere als Malerin verfehlt und wird von Unzufriedenheit und Einsamkeit gequält. Eine weitere Erzählebene des vielschichtigen Romans bilden von Kira im Präsens erzählte entscheidende Momente und Stationen ihres bisherigen Lebens, wie etwa die Emigration nach Deutschland im Auto mit den streitenden Eltern, eine frühere Liebesbeziehung, eine intime Frauenfreundschaft, ihre Fehlgeburt, ihre Malkunst u.a. Gleichberechtigt neben diesen Erzählungen Kiras von ihrer eigenen Vergangenheit und Gegenwart stehen die ebenfalls präsentisch erzählten Geschichten ihrer Familie, die von Verfolgung, Flucht und Krieg, aber auch von Leben und Lieben in der Sowjetunion berichten.

So entsteht ein mehrdimensionales Werk, dessen zentrale Themen sowohl Entwurzelung als auch Familie und die in der Familie freiwillig oder unfreiwillig geteilte Aufgabe der Erinnerung und Vergegenwärtigung der eigenen Herkunft sind. Herkunft kann dabei zwar an einen Ort gebunden sein, aber: „Das Wesentliche liegt irgendwo anders als in der Geographie“. Wie etwa Kiras Gespräche mit älteren Verwandten nahelegen, kann Herkunft vor allem auch bedeuten, eine geteilte Erinnerungsaufgabe anzunehmen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Nachgeborene sich nicht allein von vergangenen Geschehnissen berichten lässt, sondern sich gleichsam selbst als Erinnerungskatalysator anbietet: „Ich reiße mich zusammen und lasse ihr den Moment, in dem sie tief in meine Augen blickt und sich an ihr ganzes Leben erinnert, das nichts mit mir zu tun hat.“ So verschwimmen die Erinnerungen der Älteren mit den Erzählungen der Jüngeren und es entsteht ihre gemeinsame Familiengeschichte.

Eine Frage, die der Roman immer wieder und auch sich selbst stellt, ist, ob und wie sich Erfahrungen von Verlust, Schmerz, Leid, Ungerechtigkeit und Tod in Kunst verwandeln lassen. Kira weiß um ihre Privilegien und kontrastiert ihre „europäischen Durchschnittsprobleme“ mit den Nöten von Flüchtlingen an den Grenzen Europas und dem Leid, das ihre Familie im Faschismus und Totalitarismus erlebte. Erzählerisch wird dadurch möglich, dass Kiras Schilderung der Geburt, bei der sie ihrer Freundin beisteht, sich mit eigenen Phantasien und fremden Erinnerungen an faschistische Folter vermischt und eindrücklich deren Einfluss auf die Gedankenwelt der Nachgeborenen darstellt. So gelingt dem Roman mittels Kontrastierung und Verkettung, Andeutung und Hinterfragung der Balanceakt, Geschichte und Gegenwart in ein reflektiertes Verhältnis zu setzen. Am Ende ergibt sich gerade aus den nie restlos aufeinander beziehbaren Erzählungen von Kira und ihrer Familie ihre Herkunft – wofür der Roman mit der Fragmentarität der Episoden eine überzeugende künstlerische Form findet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Marina Frenk: ewig her und gar nicht wahr.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
240 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783803133199

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