Von lebenden Toten

In seinem Romandebüt ,,In zwangloser Gesellschaft“ unternimmt Leonhard Hieronymi einen Roadtrip zu den letzten Ruhestätten europäischer Schriftsteller*innen und nähert sich dabei der Ewigkeit und dem Vergessen an.

Von Larissa DehmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Larissa Dehm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Einzige, das man wirklich muss, ist sterben. Leonhard Hieronymi befindet sich in seinem Debütroman also buchstäblich in einer zwanglosen Gesellschaft – nämlich unter Toten. Sie haben sich dem Imperativ des Lebens entzogen und übertragen das Pflichtgefühl auf die Nachwelt. Diese muss nun mit der Aufgabe leben, der Toten zu gedenken und sie so vor dem Vergessen zu bewahren. Dieses Pflichtgefühl scheint auch der als Leonhard Hieronymi signierende Erzähler zu verspüren. Geplagt von Schuldgefühlen ob eines unkontrollierbaren Lachanfalls in den Katakomben Roms, beschließt er, sich mit dem Totenreich zu versöhnen. So beginnt eine Reise, die ihn an die entlegensten Orte Europas, sowie nicht selten auch an den Rand des Wahnsinns treibt. Denn Hieronymi begnügt sich nicht damit ,,Promi-Friedhöfe“ zu besuchen und gut ausgeschilderte Gräber mit zahllosen anderen Tagestouristen zu fotografieren. Er wandelt auf den letzten Wegen obskurer Schriftsteller wie Heino Jäger oder Kathinka Zitz-Halein, macht sich auf die beschwerliche Suche nach dem Grab Ovids, unterhält sich mit Friedhofsverwaltern und Totengräbern und versucht so auszuloten, wie es sich mit der vergänglichen Verehrung und dem ewigen Vergessen verhält. 

In zwangloser Gesellschaft ist zwar Hieronymis Debütroman, doch ist er längst kein Unbekannter mehr in der deutschsprachigen Literaturszene. Als Mitglied des Literaturkollektivs Rich Kids of Literature, das sich dem Aufbrechen verkrusteter Strukturen des Literaturbetriebs verschrieben hat, macht er bereits seit einigen Jahren von sich reden. Vor allem sein 2017 im Korbinian-Verlag erschienenes Manifest der Ultraromantik, in dem er eine Fusion aus Romantik und Science-Fiction propagiert, stieß eine kontroverse Debatte an.

In zwangloser Gesellschaft knüpft nicht nahtlos an Ultraromantik an, doch lässt sich eine gewisse Kontinuität ausmachen. Denn gerade der Tod ist sowohl Gegenstand romantischer Verklärung als auch Motor der Science-Fiction Literatur, die ihn nahezu obsessiv überwinden will. Wenngleich der Aufbau von Hieronymis Roman, der einer Reisereportage ähnelt, keinerlei Manifest-Charakter mehr hat, so lässt er sich doch als ein Weiterdenken seiner vorherigen literarischen Arbeit lesen.

Die Spannung, welche sich aus der Angst vor und der gleichzeitigen Faszination für den Tod ergibt, ist In zwangloser Gesellschaft von Anfang an eingeschrieben. Hieronymi widmet sich seiner monumentalen Aufgabe, der Annäherung an das Totenreich, auf beinahe naive, zumindest jedoch sehr vorsichtige Weise. Statt Abgeklärtheit steht häufig sein eigener Aberglaube im Fokus, der ihn beispielsweise davon abhält, die Bäume auf Friedhöfen zu berühren, nur für den Fall, es halte sich noch eine rastlose Seele darin auf. Kleine Beobachtungen lädt er mit Bedeutung auf, während er das allzu Offensichtliche meidet und statt Erklärungen zu bieten, lässt er lieber Rätsel stehen.

Dies könnte banal wirken oder als ,,Fehlen jeglicher Ironie“ bemängelt werden, wie es die diesjährige Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises, vor der Hieronymi einen Textauszug präsentierte, tat. Doch gerade diese Abwesenheit von Zynismus ist es, die In zwangloser Gesellschaft lesenswert macht. Wenn Hieronymi vom ,,Friedhof Europa“ schreibt und damit sicherlich nicht nur die Gesamtheit aller Ruhestätten auf dem Kontinent meint, so ist dies aufrüttelnd, gerade weil er damit nicht auf Provokation, sondern auf Nachempfindung aus ist. Er lässt sich Zeit für Beschreibungen und entwirft zu jedem Friedhof Stimmungen, die keiner Zuspitzung mehr bedürfen, sondern die sich im Kopf des Lesers fest- und fortsetzen.

Die scheinbare Willkür, die sich in der sehr diversen Auswahl der Autoren und Orte spiegelt, wird nie aufgelöst, der Roman verfolgt keinen Plan oder strebt auf eine Erkenntnis zu. Dies kann bisweilen zu einem Eindruck der bemühten Beiläufigkeit führen, denn die großen, existenziellen Fragen werden immer nur gestreift bis die nächste Ablenkung kommt. Doch gerade diese konsequente Inkonsequenz, mit welcher der Erzähler seine Reise vorantreibt, spiegelt auf unangenehm authentische Weise den Umgang unserer Zeit mit ebenjenen Fragen, mit denen man sich doch nie recht auseinandersetzen will. Wenn den Erzähler irgendwo in der Einöde Rumäniens eine unerklärliche Schwermut überkommt, die einen selbst mitreißt, so beneidet man beinahe die Toten, die sich um den Zustand der Welt und ihr Erbe nicht mehr sorgen müssen. Einzig über die Selbstinszenierung des Erzählers und seiner allesamt intellektuellen und wie zufällig mit interessanten Anekdoten über die betreffenden Autoren ausgestatten Reisebegleiter stolpert man bisweilen, da der Eindruck entsteht, als wolle Hieronymi sich mit seinem Text an einen ebenso ausgewählten Kreis wenden – keine so zwanglose Gesellschaft.

In zwangloser Gesellschaft ist ein Buch über den Tod. Es ist aber auch eines über die Hinterbliebenen, die sich noch mit dem Leben herumschlagen müssen. Am Grab von Robert Gernhardt sinniert er darüber, dass dessen Gratwanderung zwischen Ernst und Spaß nie richtig verstanden worden sei – In zwangloser Gesellschaft führt dieses Projekt ein stückweit fort, allerdings bleibt unklar, welchem der beiden Begriffe denn nun der Tod und welchem das Leben zuzuordnen ist. Diese Uneindeutigkeit mag eine der Schwächen des Romans sein – sie ist aber auch eine seiner größten Stärken.

Titelbild

Leonhard Hieronymi: In zwangloser Gesellschaft.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455009552

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